[Fortsetzung von März 2024]
»Setzen Sie sich doch«, flötete Ophelia zuckersüß und deutete mit der Hand auf einen Ohrensessel, der vor einem staubigen Bücherregal unweit des großen Fensters stand. »Darf ich Ihnen was zu trinken anbieten?«
»Nein danke, sehr freundlich“, winkte Will Phiggen ab und räusperte sich.
Der Staub, den der Sessel aufwirbelte, als er sich setzte und der nun glitzernd durch die Sonnenstrahlen, die durch das Fenster schienen, schwebte, kratzte in seinem Hals. Mühsam unterdrückte er einen Hustenreiz und überlegte, ob er nicht doch wenigstens ein Glas Wasser bekommen könnte, fegte den Gedanken aber beiseite und kam ohne weitere Umschweife auf den Grund seines Besuchs zu sprechen.
»Fräulein Ophelia, ich darf Sie doch so nennen, oder?«
»Natürlich.«
»Ich komme zu Ihnen, weil meine Auftraggeberin mir Ihre Adresse gab. Frau van Keks sorgt sich um ihre Freundin Bibi Haxenhuber, die seit Tagen spurlos verschwunden ist«, sagte Will Phiggen.
»Bibi?«, rief Ophelia mit schreckgeweiteten Augen aus, »Ihr ist doch nichts passiert, oder?«
»Das wissen wir nicht. Aber ich entnehme Ihrer Reaktion, dass Sie auch kein Wörtchen von Frau Haxenhuber hörten. Wissen Sie denn sonst etwas, das mir helfen könnte?«
»Jenny… ähm, ich meine Frau van Keks, schickte Sie zu mir. Also muss ja was sein. Warten Sie einen Moment…«, sagte Ophelia, ging zu dem Schreibtisch in der anderen Ecke des Raumes und nahm dort den Telefonhörer ab. Sie drückte auf eine Kurzwahltaste, hielt sich den Hörer ans Ohr und wartete. »Nichts. Geht keiner ran. Wie lange, sagten Sie, hat Jenny nichts von Bibi gehört?«
»Laut meiner Klientin einige Zeit schon nicht mehr«, sagte Will.
»Unbegreiflich… aber, schauen Sie mal hier«, sagte Ophelia und öffnete eine Schublade an der Kommode hinter dem Schreibtisch. Sie entnahm der Schublade eine kleine Pappschachtel, die mit einer Kordel verschnürt war. »Diese Schachtel hier gab mir Bibi zur Aufbewahrung. Sie sagte, dass ich es im Notfall herausgeben solle.«
»Wissen Sie was darin ist?«, wollte der Detektiv wissen.
»Nein, auch wenn ich so aussehe, bin ich nicht neugierig und schnüffle nicht in den Sachen, die mir anvertraut werden, herum. Aber ich denke, dass nun dieser Notfall eingetroffen ist, für den ich diese Schachtel aufbewahren sollte.«
Ophelia gab Will Phiggen die Schachtel, der sie skeptisch betrachtete. Offenbar musste sie mal im Wasser gewesen sein, denn so wie sie aussah, lag sie wohl tagelang im Regen oder in einem Fluss oder sonstwas. Natürlich war sie trocken, aber das konnte man der Schachtel immer noch ansehen. Will warf Ophelia einen bejahenden Blick zu, holte aus der Tasche seines Trenchcoats ein kleines Klappmesser heraus, ließ die Klinge hervorschnappen und trennte damit die Kordel, die die Schachtel umgab, auf. Er klappte das Messer zusammen, steckte es wieder weg und hob den Deckel der Schachtel an. Kurz darauf entfuhr Will ein Seufzer der Enttäuschung, denn nichts von dem, was er in der Schachtel fand, entsprach seinen Erwartungen. Ein Foto von Ophelia, Jenny und Bibi, die auf einer Bank vor einer Almhütte saßen, ein Freundschaftsbändchen, ein Duftkissen, das schon lange nicht mehr duftete, ein getrockenes Edelweiß, alles ramponiert von dem Wasser, das die Schachtel einst heimsuchte. Will wollte die Schachtel schon beiseite stellen, als ihm ein verwaschener Zettel auffiel. Er nahm den Zettel vorsichtig in die Hand und betrachtete ihn. In der verlaufenen Tinte konnte er diffus etwas erkennen. Angestrengt zwängte er die Augen zusammen und las das Wort STIPIUS.
»STIPIUS?«, fragte er Ophelia.
»STIPIUS? Was ist das?«, fragte diese zurück.
»Sagt Ihnen das nichts?«, wollte Will wissen.
»Nein. Nicht, dass ich wüsste.«
»Das steht hier auf diesem Zettel«, sagte Will und reichte das Stück Papier an Ophelia, die es mehr als nur ratlos ansah.
»Ich weiß beim besten Willen nicht, was STIPUS sein soll, Herr Phiggen“, sagte sie achselzuckend und reichte den Zettel Will zurück.
»Probieren Sie weiter, Frau Haxenhuber zu erreichen, Fräulein Ophelia. Danke. Sie haben mir jedenfalls weitergeholfen. Ich werde mich mit Frau van Keks beraten und dann sehen wir weiter«, sagte Will im Aufstehen, klopfte sich die Hose ab und ging Richtung Ausgang. »Vielen Dank nochmal, ich melde mich wieder bei Ihnen.«
»Gerne doch«, rief Ophelia dem Detektiv noch nach, doch dieser war schon zur Tür hinaus.
Eiligen Schrittes ging Will auf sein Auto zu, entrieglte per Fernbedienung die Tür, ließ sich schwer auf den Fahrersitz fallen und zog die Autotür zu. Aus der Innentasche seines Trenchcoats holte er sein Smartphone heraus und startete die Internetsuche nach dem ominösen Wort.
»STIPIUS also… soso….«, murmelte er, während er die Suchergebnisse überflog.
Will wurde allerdings enttäuscht. In den Niederlanden wurde ein Herr Stipius beerdigt und das schon im Jahre 1807, desweiteren fanden sich noch einige Personen namens Stipius, die aber entweder nicht mehr lebten oder weit entfernt. Will Phiggen konnte sich nicht vorstellen, dass Frau Haxenhuber etwas mit Israel zu tun hätte. Warum auch? Dann fiel ihm das lateinische Wort stipius auf, das soviel bedeutet wie verwurzelt, aber auch das schien ihm irrelevant zu sein. Entnervt schaltete er das Smartphone aus und steckte es zurück in die Manteltasche.Er rieb sich das Kinn, spürte die Bartstoppeln, die längst wieder eine Rasur nötig hätten und dachte nach. Leider ergebnislos, wie sooft, wenn er kaum Anhaltspunkte hatte. Darum beschloss er den Tag zu beenden und sich am nächsten Morgen mit Frau van Keks zu unterhalten. Will startete den Motor, der ächzend zu Leben erwachte und fuhr los.
Sein Büro – vielmehr das, was er Büro nannte – war zugleich seine bescheidene Wohnung. Will erweckte seinen altersschwachen PC aus dem Standby-Modus und tippte schnell die neuen und eben sehr wenigen Erkenntnisse in ein Dokument, speicherte dieses und fuhr den PC dann runter. Danach holte er eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, trank diese fast in einem Zug leer und überlegte, wie er diesen Abend verbringen sollte. Will Phiggen liebte die Zerstreuung und das am gernsten bei einem alten Film Noir. Unweit seiner Wohnung befand sich ein uraltes Kino, das irgendwie den Krieg unbeschadet überstand und in seiner Originaleinrichtung als Dennis’ Filmlounge weitergeführt wird. Will kannte den Betreiber gut, da er schließlich Stammgast war und nicht selten der einzige Gast bei einer Vorstellung. Es tat dem Charme dieses Kinos keinen Abbruch, dass öfters Schwarz-Weiß-Filme liefen. Ganz im Gegenteil machte das den Reiz dieses Kleinods aus. Schon hatte Will Lust darauf und verließ seine Wohnung in Richtung Kino.
Natürlich war Will Phiggen auch dieses Mal der einzige Gast, der sich einen Spionagethriller aus den 1950er-Jahren anschaute. Dennis war froh überhaupt einen Zuschauer bei der Vorstellung zu haben, sonst hätte er das Kino gar nicht geöffnet. Man merkte ihm die Sorgen um die Finanzierung seiner Leidenschaft an. In den 1970er-Jahren war das ein Pornokino und in der Vor-VHS-Ära gut besucht. Dann kamen die Videotheken auf und niemand wollte mehr in ein solches Schmuddelkino. Heute gibt es auch die nicht mehr, denn das Internet versorgt den Mann von Welt überall und jederzeit mit Porno aller Coloeur. »Wie sich die Zeiten doch ändern«, murmelte Will und schaute voller Wehmut den alten Film, in dem sich die Spione noch mit präparierten Radiogeräten gegenseitig abhörten und sich sogleich gegenseitig des Abhörens beschuldigten. »Ja, das waren noch Zeiten!«, sagte Will eine Spur zu laut, aber was soll’s? Wen stört er denn hier? Mit einem Becher Salzcracker und Laugenbrezeln, der in Comicschrift als „Dennis’ Knabberspass“ beschrieben war, fläzte Will in dem Kinositz und genoss den Film. Die Spione von damals mussten noch wirklich ran. Das war noch Handarbeit im wahrsten Sinne des Wortes. Heute sitzt man nur noch an Computern und hat von der Welt da draußen keine Ahnung mehr. Will wäre gerne Detektiv in der damaligen Zeit gewesen und schwärmte ein bisschen von den Helden auf der Leinwand, die mit einem Schiff der legendären Donaudampfschifffahrtsgesellschaft durch den Ostblock fuhren, stets am Rande der Verhaftung oder in höchster Lebensgefahr. Ja, das waren Helden, keine Computerfuzzies. Will lachte ein bisschen und dann drängten sich die Gedanken über seinen derzeitigen Fall in sein Bewusstsein. Was wenn Frau Haxenhuber wirklich mit Geheimdiensten im Bunde stand? Vielleicht mit dem Mossad? Stipius war schließlich in Israel ein recht gängiger Name. Warum sonst sollte eine junge Frau so einfach verschwinden? Zumal sie dann auch noch den Karton bei Ophelia deponierte und dazu orakelte, dass ihr mal was passieren könnte. War Will da eventuell in eine große Sache geraten? Das Gedankenkarussell drehte sich so sehr, dass er vom Film gar nichts mehr mitbekam. Auch nicht, wie der Abspann über die Leinwand flimmerte. Erst als im Kinosaal die Lichter angingen, kam Wills Bewusstsein wieder in die Gegenwart zurück. Ächzend stand er aus dem Kinosessel auf, der schon längst mal neu gepolstert werden könnte und winkte Dennis oben im Vorführraum zu. Ob er es gesehen hatte, konnte Will nicht sagen. Es war ihm aber auch herzlich egal. Will verließ ohne Umschweife die kleine Filmlounge und ging nach Hause.