[Fortsetzung von April 2024]
Eine unruhige Nacht lag hinter Will. In seine wirren Träume gerieten plötzlich Geheimagenten, die vor seinen Augen Frauen entführen und ihn zugleich in eine Schockstarre versetzten, aus der er beim besten Willen nicht heraus kam und hilflos das Treiben mitansehen musste. Meist ist er als Detektiv erst dann im Einsatz, wenn die Personen bereits verschwunden sind. Wie auch dieses Mal wieder. Umso erstaunter war Will, wieso sich ihm diese Gedanken aufdrängten. Schwerfällig erhob er sich von seinem Schlafsofa, das im Wohnzimmer stand und trottete zur Kaffeemaschine. In der kleinen Küchenzeile, welche in einer Nische an der Wand eingelassen war, stapelte sich das Geschirr, das Will unbedingt mal abwaschen sollte. Langsam gingen ihm die Tassen aus. Er ließ Wasser in die Kanne laufen, stülpte einen Kaffeefilter in die Maschine, schaufelte aus einer Metalldose das Kaffeepulver hinein und drückte den Schalter. Blubbernd erwachte die Kaffeemaschine zum Leben und Will verschwand in dem kleinen fensterlosen Bad, wo er erst mal eine kalte Dusche nahm. Die Kälte des Wassers belebte seine Geister, hatte aber auch den Vorteil, dass er Geld für das Erwärmen sparte und kürzer duschte.
Mit einem Handtuch um die Hüfte und einem Handtuch um den Nacken kam Will Phiggen aus dem Bad, goß sich eine frische Tasse Kaffee ein, die er wie immer schwarz ohne alles trank, und setzte sich an seinen Schreibtisch. Das Wort STIPIUS kreiste ihm im Kopf herum und wollte sich ihm nicht erschließen. Abermals versuchte er eine Internetrecherche und tippte das Wort in die Suchmaske ein, nachdem der PC endlich hochgefahren und betriebsbereit war. Am Schreibtisch ließe sich ausführlicher suchen als es im Auto möglich gewesen sein sollte. Will ergänzte die Suche auch um Begriffe wie ‚Mossad’ und ‚CIA‘, doch keine der Ergebnisse führten zu nennenswerten Erfolgen. Eher im Gegenteil. Will kratzte sich das bartstoppelige Kinn und fragte sich wieder einmal, ob er nicht doch auf der falschen Fährte sei. Er hätte gerne einmal einen großen Fall. Meist ist er nur mit kleinen Fischen befasst und streng genommen lebte er hauptsächlich davon ehebrechende Männer zu überführen, was auch nicht besonders schwer ist. Das langweilte ihn durchaus und da wäre eine Geheimdienstsache schon was aufregendes, aber das schien mehr und mehr nur Wunschdenken von Will zu sein, das ihn zudem in eine Sackgasse führte, in die er sich nicht verrennen wollte. Er schaltete den PC in Standby, schlüpfte in dieselben Klamotten vom Vortag, die zusammengeknödelt auf einem Stuhl neben dem ausgezogenen Sofa lagen und machte sich auf den Weg zu seiner Auftraggeberin Jenny van Keks.
Der Kies knirschte unter den Reifen von Will Phiggens Auto, als er auf den Hof der Keks’schen Villa fuhr. Das pittoreske Anwesen mit seinen rosa-weißen Fassaden, den dunkelgrauen Biberschindeln auf dem Dach, den akkurat gestutzten Formbäumen und der Blütenpracht in den Beeten um den Hof herum, machte schon allerhand her. Selbstverständlich holte Will Erkundigungen über seine Auftraggeberin ein, nicht zuletzt um sich ihrer Bonität zu versichern, die jedenfalls gesichert zu sein scheint. Jenny van Keks war eine erfolgreiche Schriftstellerin, die mit ihren Romanen ein kleines Vermögen verdiente und sich dadurch solch einen feudalen Wohnsitz und auch ihn als Privatdetektiv leisten konnte. Er schnappte sich die Mappe, in der er die wenigen Unterlagen, die er bislang zusammenbekam – unter anderem ein Foto der vermissten Bibi – und stieg aus. Will betrachtete die Fenster der Villa, als er seine Autotür zuschlug, die ihm seltsam leblos vorkamen. Als ob in der Villa kein Leben herrschen würde. Ganz im Gegensatz zu den Außenanlagen, wo der Wind leicht durch das Blattwerk der Bäume wehte und somit ein gefälliges Rauschen erzeugte, welches durch Vogelstimmen angereichert wurde und den malerischen Eindruck einer Idylle noch unterstrichen. Der Detektiv ging auf das Eingangsportal zu und drückte auf den Klingelknopf. Es wunderte ihn auch nicht, dass er den Westminsterschlag als Türgong hörte. So platt es erschien, passte es doch zu diesem Haus. Fehlte nur noch, dass ein Butler in Livree die Tür öffnete. Doch in diesem Punkt wurde Will enttäuscht, denn es öffnete ihm Jenny persönlich die Haustür und bat ihn sogleich herein, als ob sie ihn schon erwartet hätte. Dabei hatte sich Will gar nicht angekündigt.
»Herr Phiggen. Wie schön! Kommen Sie doch herein«, strahlte ihn die erfolgreiche Schriftstellerin an und wies mit der Hand ins Innere.
Will blieb für kurze Zeit die Sprache weg beim Anblick dieser blonden Schönheit und er konnte es sich nicht verkneifen, sie eingängig zu betrachten. Ungeniert ließ er seinen Blick von ihren himmelblauen Augen, die ihn freundlich anlächelten, über ihr Dekolleté hinunter zu ihren makellosen Beinen schweifen, die sich keck aus diesem asiatisch angehauchten Morgenmantel streckten. Das Drachenmuster auf der dunkelblauen, fast schwarzen Seide leuchtete förmlich in satten Rot- und Goldtönen und ließ Jennys Antlitz erstrahlen. Ihre blonden Haare wirkten dabei wie gesponnenes Gold und ihre ungeschminkten zartrosa Lippen öffneten sich zu einem Lächeln, das die eben ausgesprochene Einladung einzutreten bekräftigte. Mit einem Ruck riss sich Will von den feinen Rundungen, die der V-förmige Ausschnitt des Mantels als Dekolleté verriet, los, streifte die Schuhe auf der Fußmatte ab und betrat die Vorhalle der Villa. Das Vestibül entsprach zwar dem Klischee, das Will von dieser Villa hatte, doch fielen ihm sogleich die feinen Unterschiede auf, die hier herrschten. Der Boden war natürlich ein gefliestes Mosaik, doch nicht wie sonst eine Windrose oder ein Familienwappen, sondern eine Darstellung diverser Blasinstrumente von Trompete bis Saxophon. Sehr ungewöhnlich. Aus einer Stuckrosette an der Decke kam eine Kette hervor, an deren Ende ein üppiger Kristalllüster hing. Die schwungvolle Treppe mit ihren bauchigen Geländersprossen aus Marmor hatte keinen Teppichbelag. Die Stufen waren purer Marmor und – es hätte ja auch nicht anders sein können – natürlich aus rosa Marmor, wie er seltener kaum sein konnte. An den Wänden waren auch keine typischen Ahnenbilder in schwülstigen Rahmen, sondern als Wandmalereien, in Stuckornamenten umfasst, Portraits der größten Jazzmusiker von Miles Davis bis Bix Beiderbecke. Etwas, das Will nun nicht wirklich erwartet hätte. Der Anblick rief in Will Phiggen Erinnerungen an seinen Großvater auf, der unentwegt Jazzplatten auf einer alten Musikkommode hörte. Deswegen war ihm der Jazz besonders vertraut und er bekam Lust darauf, wieder einmal einen Abend in einem Jazzclub zu versacken, Whiskey zu trinken und mit einer Dame zu schäkern, doch Jenny störte seine Schwelgerei, indem sie ihn in den Salon bat, der sich zur Rechten von ihm befand. Will nickte nur und ging dann wortlos in die ihm angewiesene Richtung.
»Bitte, setzen Sie sich«, sagte Jenny und wies mit der Hand auf einen mit rotem Samt ausgeschlagenen Sessel. »Möchten Sie eine Tasse Tee?«
Will ließ sich schwerfällig in das Möbel plumpsen und überlegte kurz, ob er den Tee haben wollte. Irgendwie mussten seine Gedanken etwas abseits geraten sein, als er Frau van Keks an sich vorbeihuschen sah und sich selbst dabei ertappte, lüsterne Blicke auf ihren Po geworfen zu haben, der sich unter der schimmernden Seide recht gut abzeichnete. Doch Will wäre nicht Will, wenn er sich nicht selber zur Räson rufen könnte und so holte er sich in seine Routine zurück, in dem er ruhig ein: »Ja, gerne« sagte.
Jenny goß aus einer Porzellankanne, die auf einem Stövchen stand, die im Sonnenlicht leuchtende bernsteinfarbene Flüssigkeit - vermutlich einer Ostfriesenmischung - in ein doppelwandiges Teeglas, das sie dem Detektiv reichte, goß sich selber auch ein Glas ein und setzte sich damit in den Sessel ihm gegenüber. Dabei fielen die Schößlinge des Morgenmantels zur Seite und gaben Jennys Beine frei, die Wills Blicke fesselten, zumal er sich einbildete, dass sie beim Überschlagen kurze Zeit noch viel mehr preisgaben. Das mag aber auch Einbildung sein, da die berühmte Szene aus dem Film ‚Basic Instict‘ mit Sharon Stone sich nicht nur in Wills Gedächtnis eingebrannt hatte und somit gerne auf ähnliche Momente projiziert wird. Um nun nicht ganz die Fassung zu verlieren, zwang Will sich dazu, seinen Blick durch den Salon schweifen zu lassen. Die Einrichtung hatte was von einem herrschaftlichen Ansitz, wie man ihn in Rosamunde-Pilcher-Romanen oft zu lesen bekam. Wobei Will Phiggen gerne mal las, aber wenn, dann doch lieber Agatha Christie oder Dorothy Sawyers. Das große Bücherregal, das fast eine ganze Wand des Salons einnahm, war bestückt mit tausenden Büchern, manche so dick, dass Will sogar auf diese Entfernung den Text auf den Buchrücken lesen konnte. Lauter Biographien von Musikern und Künstlern, aber auch Zeitgeschehen und Fachliteratur. Nun, für Jenny van Keks als Schriftstellerin bestimmt wichtige Arbeitsgrundlage. Der Rest des Salons war mit einer gediegenen Ausstattung von Mobiliar aus dunkelrotem Holz, vermutlich Kirsche, bestanden und erinnerte Will etwas an die Szenerien, in denen Agatha Christie oder auch Arthur Conan Doyle ihre Verdächtigen verhören ließen und sodann den Täter überführten. Nur der Laptop auf der Chaiselongue neben Jenny störte das Gesamtbild und war zusammen mit ihrem asiatischen Seidenmantel ein Zugeständnis an die Moderne.
Jenny hob fragend die Augenbrauen und sah den Detektiv eindringlich an ohne ein Wort zu sagen. Was sie auch nicht musste, denn Will verstand sehr wohl die Aufforderung nun endlich zu sagen, warum er hier war. Er stellte das Teeglas beiseite und räusperte sich, als er den Zettel, den er in Bibis Karton fand, aus seiner Manteltasche holte.
»Frau van Keks«, begann Will dann seine Fragerunde, »bei Fräulein Ophelia war ein Karton von Frau Haxenhuber hinterlegt mit dem Vermerk, diesen nur dann zu öffnen, wenn etwas vorgefallen sei. Aber als wir, also Fräulein Ophelia und ich, den Karton öffneten, fanden wir nur Dinge, die uns kein Stück weiterhalfen… außer...«
»Außer was?«, wollte Jenny sofort wissen.
»Außer diesem Zettel hier«, sagte Will und reichte ihn der blonden Schriftstellerin.
Jenny van Keks nahm das Papier in die Hand, betrachtete es, drehte es hin und her und gab es mit einem Schulterzucken Will Phiggen zurück.
»Wissen Sie was STIPIUS heißen könnte?«, insistierte Will.
»Nein, ganz und gar nicht«, sagte Jenny nach kurzem Überlegen. »Das hab ich auch noch nie gehört. Von Bibi schon gar nicht.«
»Fräulein Ophelia versucht Frau Haxenhuber zu erreichen, doch bislang ohne Erfolg. Ist es früher schon zu solchen Momenten gekommen, dass sie lange nichts von sich hören ließ oder nicht auf Anrufe oder Mails oder sonst was reagierte?«
»Man hat nicht immer die Zeit und Lust dazu, Herr Phiggen«, sagte Jenny seufzend, »aber meist kam dann doch nach kurzer Zeit eine Antwort. Und wenn es nur eine Mail mitten in der Nacht war. Aber so wie jetzt war das noch nie. Was glauben Sie eigentlich, warum ich Sie engagierte? Bestimmt nicht, weil Bibi sich mal nicht meldet. Sie ist weder zu Hause noch sonst wo zu finden. Ihr ganzer Bekanntenkreis weiß rein gar nichts über ihren Verbleib.«
»Hm«, brummte Will nickend, »ich befürchte, dass ihr was größeres zugestoßen sein könnte. STIPIUS ergibt zwar noch nicht viel Sinn, aber vielleicht wurde sie von einem Geheimdienst entführt.«
»Was? Bibi?«, lachte Jenny van Keks laut los, »Im Leben nicht! Was soll sie auch spionieren? Nein, Herr Phiggen, ich glaube Sie verrennen sich da in was.«
»Meinen Sie? Haben Sie eine andere Idee für ihr Verschwinden? Und was soll dann STIPIUS sein?«, gab Will zu bedenken.
»Ich gebe zu«, sagte Jenny und hob in ergebender Weise die Hände, »das nährt meine Fantasie. Und da ich mir beim besten Willen weder ihr Verschwinden noch diesen Zettel mit einem ominösen Wort erklären kann, könnte vielleicht… ich betone vielleicht… etwas an Ihrer Theorie dran sein. Auch wenn ich nicht wüsste, wieso Bibi etwas mit Geheimdiensten zu tun haben könnte, geschweige denn, dass sie das wollen würde. Eher befürchte ich, dass sie einem Verbrechen zum Opfer fiel. Vergewaltigt, ermordet und verscharrt oder so. Bis die Polizei sie dann findet… oje… da werden Sie sie eher haben.«
»Gibt es jemanden in Frau Haxenhubers Umfeld, dem Sie so etwas zutrauen würden?«, wollte Will Phiggen wissen.
»In der heutigen Zeit muss man das jedem zutrauen. Lesen Sie keine Zeitung? Das ist leider trauriger Alltag geworden. Davon abgesehen würde mir eigentlich nur einer einfallen. Aber der ist weit weg und das liegt Jahre zurück. Ich weiß nicht einmal, ob er überhaupt Kenntnis davon hat, dass sie hier lebt. Kontakt hatten die beiden nicht. Schon lange nicht mehr.«
»Können Sie mir eine Adresse geben?«
»Tut mir leid, die weiß ich nicht. Ich weiß auch seinen Namen nicht. Irgendwie wollte sie den nie in den Mund nehmen. Sie sprach immer nur von ER und IHM. Wenn sie davon sprach, was nicht viel und selten obendrein war.«
»Nun gut«, sagte der Detektiv im Aufstehen, »Haben Sie vielen Dank, Frau van Keks. Ein paar neue Gedanken ergaben sich dadurch, die ich nun erst mal sortieren muss.«
»Bitte gerne, hauptsache Sie kommen schnell zum Erfolg«, sagte Jenny, erhob sich ebenfalls und wollte Will zur Tür begleiten, doch der winkte ab.
»Danke, bemühen Sie sich nicht. Ich finde alleine hinaus. Auf Wiedersehen, Frau van Keks.«
»Auf Wiedersehen, Herr Phiggen«, sagte Jenny, die sich wieder gesetzt hatte und einen Schluck aus dem Teeglas nahm.
Schwer ließ sich Will Phiggen auf den Fahrersitz seines Autos fallen und atmete einmal tief durch. Es würde lange dauern, bis man herausfinden könne, wer dieser ER gewesen ist und vermutlich noch länger, bis man ihn aufgespürt hätte. Allerdings erschien es auch Will eher unwahrscheinlich, dass nach einer langen Zeit, in der sie sich nicht sahen oder Kontakt hatten, etwas geschehen wäre. Und es würde auch Wills leise Hoffnung auf die ganz große Verschwörung, die er witterte, zerstören. Er behielt sich diese Spur im Hinterkopf, als er die Autotür zuzog und den Motor startete. In gemächlichen Tempo steuerte er den Wagen über die Allee zurück in Richtung Stadt. Immer noch kreiste ihm das Wort STIPIUS durch den Kopf und er überlegte, ob der Ex von Bibi vielleicht dieser Stipius gewesen sein könnte. Wenn Frau Haxenhuber nie den Namen erwähnte, wird das schon seinen Grund haben. Vielleicht durfte sie ihn nicht erwähnen? Weil er ein Geheimagent war oder immer noch ist? Wenn dem so wäre, dann wäre es für Will unmöglich herauszufinden, wer das war, geschweige denn, an ihn heranzutreten. Plötzlich erschrak Will und stieg refelxartig mit aller Kraft auf die Bremse. Mit quietschenden Reifen kam sein Auto schlingernd zum Stehen, gerade rechtzeitig, um nicht in den LKW zu rauschen, der laut hupend die Kreuzung querte. Mit schreckgeweiteten Augen saß Will Phiggen hinter dem Steuer und nahm im Augenwinkel das rote Licht der Ampel wahr, welches für ihn galt. Er war so in Gedanken versunken, dass er den Verkehr völlig vergessen hatte und beinahe in diesen LKW-Anhänger gerast wäre. Das ging gerade nochmal gut. Auf den Schreck brauchte Will ein kühles Blondes und da Rosmaries Kneipe auf dem Weg lag, beschloss er kurzerhand seiner alten Freundin einen Besuch abzustatten.
Die urige Kneipe von Rosmarie lag unspektakulär an einer vielbefahrenen Straße am Rande der Stadt. Die dunkelgrünen Klinker an der Fassade waren schon brüchig oder ganz ab und eines der Fenster zur Straße hin, war notdürftig mit Plastikfolie abgedeckt worden. Immer häufiger schlug man hier und da ein Fenster ein um einzusteigen und mitzunehmen, was nicht niet- und nagelfest ist. Meist verschwindet der Schnaps, manchmal auch der Inhalt von Rosmaries Kasse. Falls denn überhaupt was drin ist. Die Zeiten haben sich arg geändert. Früher war diese Gaststätte ein Treffpunkt um sich über Sport und Politik zu unterhalten, dabei Karten zu spielen und das eine oder andere Bier zu trinken. Es gab zwar immer mal Reibereien und es kam auch mal zu Handgreiflichkeiten, aber wenn Rosmarie dann auf den Tisch schlug, war entweder Ruhe oder man ging vor die Tür und dann waren die Fäuste die härtesten Argumente.
Will schmunzelte bei diesen Erinnerungen, als er eintrat. Die Kneipe war zwar immer noch urig, jedoch auch in der Zeit stehen geblieben. Das Mobiliar war abgenutzt und die Tapete, die mit Maiglöckchen gemustert war, fleckig und rissig oder zum Teil schon ab, sodass darunter die Ziegel zu sehen waren. Will setzte sich auf einen Barhocker und wunderte sich, dass er am späten Nachmittag alleine war. Früher war zu dieser Zeit schon ordentlich Betrieb und das Bier strömte aus der Leitung in die Gläser. Auch das hatte sich wohl geändert, wie so vieles. Anstatt sich in einer Kneipe gemeinsam über die Politik aufzuregen, glotzt man heute auf ein Smartphonedisplay und tritt in irgendwelchen Sozialen Medien Shitstorms los, die immerhin ein paar Sekunden Aufmerksamkeit ergattern. Natürlich ohne Bier, denn das ist nicht woke. Man trollt die Welt nüchtern, weil man sich in der Anonymität des Internets keinen Mut mehr antrinken muss.
»Will? Hallo Du…. Wie immer?«, begrüßte ihn Rosmarie, die aus der Küche kam und sofort zum Zapfhahn griff.
»Hallo Rosi«, lächelte Will Phiggen sie an ohne weitere Worte zu verlieren.
Rosmarie stellte vor dem Detektiv ein meisterhaft gezapftes Pils ab und Will erkannte die Altersflecken, die sich auf ihren Händen gebildet hatten. Tatsächlich erschien ihm Rosmarie älter als sonst oder war er nur in seinen Erinnerungen gefangen und wollte die voranschreitende Zeit nicht wahrhaben? Ihre blonden Haare von einst sind zu einem aschfahlen Grau verkommen, die Wangen eingefallen und im Gesicht haben sich die Jahre der Arbeit in dieser Kneipe in tiefe Falten eingegraben. Aber in ihren blauen Augen war immer noch jugendliches Leben drin.
»Na, was gibst? Warst lange nicht mehr da«, fragte die Wirtin.
»Was soll es geben? Im Leben nicht viel. Aber ich habe einen neuen Fall, der mich endlich mal fordert«, sagte Will und nahm einen Schluck Bier.
»Das ist doch mal was. Mensch, Will«, lachte Rosmarie dann los und zeigte auf seinen Bauch, »Du hast ganz schön zugelegt, mein Lieber.«
Indigniert schaute Will an sich herunter und erkannte in diesem Moment, wie lange er eigentlich schon nicht mehr hier war. Das muss Jahre her sein.
»Einbrecher?«, fragte Will dann ablenkend und deutete mit dem Kopf in Richtung des abgedeckten Fensters.
»Ja, wieder einmal. Langsam frage ich mich, ob es überhaupt noch Sinn macht, die Fenster reparieren zu lassen. Kaum ist das neue Glas drin, schlägt es schon wieder einer ein«, sagte Rosmarie.
»Was sagt die Versicherung? Brauchst Du eine Alarmanlage?«
»ICH?«, lachte Rosmarie laut auf, »Nein, viel zu teuer. Ebenso wie die Prämien für die Versicherung. Die spare ich mir seit langem. Das Geschäft läuft nicht mehr so gut und der meiste Schnaps, der hier verschwindet, geht eher durch das Fenster, als durch die Kehle der wenigen Gäste. Wenn ich nicht nächstes Jahr in Rente gehen würde – was ich zum Glück kann – dann würde ich schon dicht machen. Lohnt sich einfach nicht mehr.«
»OOOOOOOOMMMMAAAAAAAAAAAA«, schrie plötzlich aus der Küche ein Kind.
»Entschuldige mich mal kurz«, sagte Rosmarie zu Will und verschwand in der Küche.
Kurz darauf kam sie mit einem kleinen blonden Jungen wieder in den Schankraum und strahlte den Detektiven an.
»Will, das ist Joshi. Der Dreikäsehoch ist mein Enkel«, sagte die Wirtin mit Stolz in der Stimme und der Kleine winkte scheu, aber artig zur Begrüßung.
»Hallo kleiner Mann. Freut mich«, sagte Will ebenso artig und fragte sich selbst, ob er je etwas von Rosis Familie hörte. Wenn er ehrlich war, wusste er gar nicht, dass sie überhaupt Kinder hatte. Für ihn war sie nur immer Rosi hinter dem Tresen. Erstaunlich, dass man einer Person oft sein Herz ausschüttete, sie als Freundin ansah und nun feststellt, dass man eigentlich kaum etwas von ihr wusste. Und das wiederum warf in Will Phiggen die Frage auf, wie gut Jenny und Ophelia ihre Freundin Bibi wirklich kannten.