Nach einem anstrengenden Tag in der Stadt kommt Miss Marpal ermattet von den vielen Besorgungen nach Hause. Schnaufend und schwitzend wuchtet sie ihren Körper die paar Stufen zum Eingang hoch, stellt ihre Taschen ab, kramt den Schlüssel hervor und sperrt die Haustür auf. Wegen dem stramm eingestellten Türschließer muss Miss Marpal einen zirkusreifen Spagat hinlegen, damit sie mit einem Fuß die Tür offen halten kann und dennoch die Taschen zu fassen kriegt um die in den Flur zu bugsieren. Ein spitzbübisches Grinsen huscht über Miss Marpals Gesicht, als sie diesen Akt der Körperbeherrschung hinter sich brachte und die Tür ins Schloss fallen lassen konnte. Zuerst befreite sie ihre friedhofsblonden - na gut, mittlerweile friedhofsfahlen - Haare aus dem Hut, den sie stets zu tragen pflegte, wenn sie das Haus verließ und hing ihn auf den Haken an der Garderobe. Dann schnappte sie ihre Einkäufe, die umweltbewusst in Papiertüten verstaut waren und trug sie in die Küche, wo sie in der Speis (Vorratskammer) deponiert werden sollten.
Miss Marpal erschrak, als sie die Tür zur Speis öffnete! Die Papiertüten fielen zu Boden und der Inhalt kullerte in der ganzen Küche herum. Welch ein Frevel! Es bedurfte nicht einmal einer Sekunde, als das detektivisch geschulte Auge Miss Marpals sofort erkannte, dass das letzte Glas Kroatzbeerengelee fehlte. Weg! Aus der Speis geklaut!
"Grmml....", fing sie zu grummeln an. Die Zornesröte schoss ihr ins Gesicht und Miss Marpal würde nicht eher ruhen, bis dieser ominöse Fall geklärt ist! Sofort machte sie sich auf die Suche nach den ersten Hinweisen. Zuerst holte sie aus dem Wohnzimmer eine beleuchtete Lupe und ging dann jedem kleinen Fizzelchen am Boden nach. Da! Ein Geleefleck am Boden. Er konnte noch nicht lange da liegen, denn er war noch nicht ausgetrocknet und als Miss Marpal mit dem Finger drüber strich, diesen sich sodann in den Mund steckte, schmeckte sie noch die Kroatzbeere. Der Dieb kleckert also. So viel ist nun klar.
Gebeugt, mit der Lupe vor dem Auge, ging Miss Marpal der verbrecherischen Spur nach. Durch den Flur, geradewegs zur Tür hinaus, die Stiege zum Keller hinab... wie gut, dass die Lupe beleuchtet war. In dem finsteren Loch sieht man ja nix.
Dann hielt Miss Marpal inne und horchte in die Dunkelheit. Das war unverkennbar ein Schmatzen, das sie da hörte. Vorsichtig schlich sie sich um die Ecken und als das Schmatzen am lautesten war, sprang Miss Marpal um die Ecke und rief: "Hab ich Dich!"
"Aaaaaaah", rief die Ertappte voller Schreck und ließ das Glas zu Boden fallen. Das Poltern hallte in der nun bedrückenden Stille.
Miss Marpal kam mit der Lupe ganz nah an dieses blasse Gesicht, welches im Dunkeln noch blasser wirkte.
"Du warst das also...", wisperte Miss Marpal.
Die grünen Augen der Ertappten wanderten wild hin und her, als ob sie in den Ecken des Kellers eine Lösung für dieses Dilemma finden könnte.
"Ich? Nie!", sagte sie dann mit zitternder Stimme.
"So? Und was ist das da um Deinen Mund herum?", insistierte Miss Marpal.
"Öhm.... Lippenstift?!"
"Lippenstift?! Wo gibt es denn bitte Lippenstift aus Kroatzbeerengelee?", wollte Miss Marpal wissen.
"Äh.... na guuuuuuuut, ich gestehe..... als ich ihre Wohnung putzen wollte - Sie waren ja nicht zu Hause, werte Miss Marpal - überkam mich so ein kleines Hüngerchen und da schaute ich, was da in der Speis wäre. Ich hätte das ja auch ersetzt. Aber dann sah ich dieses Glas mit Gelee. Überall schwärmt man so davon und ich konnte einfach nicht widerstehen.", gestand die Ertappte nun. "Und dann schnappte ich es, öffnete es, steckte meinen Finger hinein.... es war soooo gut.... ich konnte gar nicht mehr aufhören. Wie eine Süchtige kam ich mir vor und versteckte mich hier im Keller, wo ich das ganze Glas ...."
Die Ertappte brach in Tränen aus und die letzten Worte erstickten in Wehklagen. Miss Marpal musste sich selbst gestehen, dass es ihr durchaus schmeichelte, wenn ihre Geleevorräte so begehrt waren. Sie hätte diesem kleinen Engelchen bestimmt ein Glas gegeben, da sie sich ja immer vorbildlich um ihre Wohnung kümmerte, seit sie aus gesundheitlichen Gründen sowas nicht mehr kann. Doch ein bisschen Strafe muss auch sein und so sagte Miss Marpal: "Hör mal, junge Dame, zuerst putzt Du meine Wohnung, danach das Treppenhaus und den Hof."
"Ja, gewiss... ich mache alles, Miss Marpal.", schluchzte die Ertappte und nickte dabei so arg, dass ihre feuerroten Haare nur so flogen.
"Und dann....", sagte Miss Marpal verschmitzt.
"Ja?"
"...kommst zu mir und holst Dir ein Glas Weichselgelee ab.", lachte Miss Marpal, nahm das kleine Engelchen an die Hand und zog sie hinter sich her hinauf in ihre Wohnung.