Kinderszenen
Von
Jenny
in Musik
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8th Mai 2019
Video Dauer: 00:52:31
Kinderszenen, op. 15, ist ein aus dreizehn kurzen Klavierstücken bestehender Zyklus von Robert Schumann aus dem Jahr 1838. Im Unterschied zum Album für die Jugend, op. 68, handelt es sich um Stücke, die nicht für Kinder, sondern nach Schumanns eigenen Worten als „Rückspiegelung eines Älteren für Ältere“ komponiert wurden. Das berühmteste Stück dieses Zyklus ist die „Träumerei“. Die Kinderszenen beeinflussten die romantische Programm-Miniatur für Klavier wie kein anderer zuvor geschriebener Zyklus.
Hintergrund und Deutung
Fernab von der dominierenden Virtuosität des 19. Jahrhunderts, deren Äußerlichkeit er ablehnte, komponierte Schumann auch kleine Charakterstücke. Am 19. März 1838 schreibt er an Clara Wieck: „Und daß ich es nicht vergesse, was ich noch komponiert. War es wie ein Nachklang von deinen Worten einmal, wo du mir schriebst, ich käme dir auch manchmal wie ein Kind vor – kurz, es war mir ordentlich wie im Flügelkleide, und hab ich da an die 30 kleine putzige Dinger geschrieben, von denen ich etwa zwölf ausgelesen und Kinderszenen genannt habe.“
Verhältnis zur Programmmusik
Ob und inwiefern die Kinderszenen als Programmmusik aufzufassen sind, geht u. a. aus Schumanns Reaktion auf eine abfällige Kritik von Ludwig Rellstab hervor: „Ungeschickteres und Bornierteres ist mir aber nicht leicht vorgekommen, als es Rellstab über meine Kinderscenen geschrieben. Der meint wohl, ich stelle mir ein schreiendes Kind hin und suche die Töne danach. Umgekehrt ist es –: die Überschriften entstanden natürlich später und sind eigentlich nichts als feinere Fingerzeige für Vortrag und Auffassung.“
Wie Schumann allgemein über die Rolle außermusikalischer Einflüsse auf die Musik dachte, zeigt sich z. B. an seinen Ausführungen zur Symphonie fantastique von Berlioz: „Was überhaupt die schwierige Frage, wie weit die Instrumentalmusik in der Darstellung von Gedanken und Begebenheiten gehen dürfe, anlangt, so sehen hier viele zu ängstlich. Man irrt sich gewiß, wenn man glaubt; die Komponisten legten sich Feder und Papier in der elenden Absicht zurecht, dieses oder jenes auszudrücken, zu schildern, zu malen. Doch schlage man zufällige Einflüsse und Eindrücke von außen nicht zu gering an. Unbewußt neben der musikalischen Phantasie wirkt oft eine Idee fort, neben dem Ohr das Auge, und dieses, das immer tätige Organ, hält dann mitten unter den Klängen und Tönen gewisse Umrisse fest, die sich mit der vorrückenden Musik zu deutlichen Gestalten verdichten und ausbilden können...“
Philipp Otto Runge: „Die Hülsenbeckschen Kinder“
Idealisierung der Kindheit
In der Romantik betrachtete man die Kindheit verklärend als Gegenpol zur Bedrängnis des Alltags und der Erwachsenenwelt. Hölderlin schreibt: „Da ich noch ein stilles Kind war und von dem allen, was uns umgibt, nichts wußte, war ich da nicht mehr, als jetzt, nach all den Mühen des Herzens und all dem Sinnen und Ringen! Ja! ein göttlich Wesen ist das Kind, solang es nicht in die Chamäleonsfarbe des Menschen getaucht ist. Es ist ganz, was es ist, und darum ist es so schön.“ Auch Schumann spricht idealisierend von der Kindheit: „In jedem Kind liegt eine wunderbare Tiefe.“ Die unverdorbene Natürlichkeit der kindlichen Welt rückt diese in unmittelbare Nachbarschaft zur Natur, in der die Romantik eine Hauptquelle der Poesie sieht. Natürlichkeit und Kindheit sind Idealzustände, die der normale Erwachsene verloren hat und die es wiederzufinden gilt. Philipp Otto Runge: „Kinder müssen wir werden, wenn wir das Beste erreichen wollen.“
Poetische Inhalte
Im Einklang mit der spezifisch romantischen Musikauffassung betrachtet Schumann die Musik als eine Art höhere Sprache, die es ermöglicht, poetische Inhalte mitzuteilen, die in Worten nicht ausgedrückt werden können.
In den Kinderszenen werden typische Elemente romantischer Poesie angesprochen, wie z. B.
Sehnsucht nach unbekannten fernen Welten, Abenteuerlust (Von fremden Ländern und Menschen)
Interesse am Ungewöhnlichen, Individuellen, Skurrilen oder Humorvollen (Kuriose Geschichte)
Abkehr von der alltäglichen Außenwelt, Rückzug in die Innerlichkeit (Träumerei)
Hineinversetzen in Fantasiewelten (Ritter vom Steckenpferd)
Melancholie, Weltschmerz (Fast zu ernst)
Interesse am Unheimlichen, Gruseligen (Fürchtenmachen)
Der Dichter spricht, Kadenz
Aufschwung, aus Fantasiestücke op. 12
Besonders deutlich wird der poetische Aspekt an den beiden Schlussstücken Kind im Einschlummern und Der Dichter spricht. Das erste Stück endet mit einem offenen Schluss auf der Subdominante von e-Moll; der Anfang des zweiten Stücks setzt den Kadenzverlauf nach G-Dur modulierend fort, so dass beide Stücke einen unmittelbaren musikalischen Zusammenhang bilden. Das Eintauchen in die nächtliche Traumwelt des schlummernden Kindes öffnet das Tor für die poetische Mitteilung des letzten Stücks. Dieses beginnt mit einem vierstimmigen Choralsatz, der auf den quasi religiösen Charakter der Botschaft verweist: Musikalische Poesie als göttliche Inspiration und Verkündigung. Im Zentrum des Stücks erscheint eine leise kadenzartige Passage, deren Melodie stark an den Anfang des zweiten der Fantasiestücke op. 12 (Aufschwung) erinnert. Hier handelt es sich freilich nicht wie dort um einen leidenschaftlich stürmischen „Aufschwung“, sondern um ein zartes, geradezu mystisches Aufschwingen der Seele in höhere Sphären, etwa im Sinne einer Formulierung des 17-jährigen Schumann: „Auf der Blumenleiter der Natur nähert sich die Seele des Dichters immer leiser und leiser dem Bilde der Gottheit“. „Immer leiser und leiser“ endet dann auch das Stück in vollkommener Ruhe.
Metronomangaben
Die Erstausgabe der Kinderszenen enthält keine verbalen Tempoangaben, sondern nur Metronomzahlen. Diese stammen zwar wahrscheinlich nicht von Schumann selbst, aber er hat sie gekannt und dadurch autorisiert, dass er sie in späteren Auflagen nicht korrigierte. Diese Metronomzahlen sind jedoch vielfach ignoriert worden, wie z. B. aus der obigen Tabelle ersichtlich wird. Dort sind neben den originalen Angaben der Erstausgabe die der Ausgabe von Conrad Kühner (ca. 1880) und die von Emil von Sauer in seiner Ausgabe von 1922 vorgeschlagenen Metronomzahlen angegeben. Die Herausgeber weichen von den ursprünglichen Angaben in unterschiedlicher Weise ab, zumeist im Sinne einer Verlangsamung, manchmal jedoch auch beschleunigend. Besonders krass fällt der Unterschied bei dem Stück Hasche-Mann aus. Während Kühner das ohnehin schon schnelle Originaltempo Viertelnote = 138 auf Viertelnote = 108 reduziert, übersteigert es Sauer auf ein fast utopisches Viertelnote = 184. Das einzige Stück, das in allen drei Ausgaben die gleiche Metronomangabe aufweist, ist Der Dichter spricht. In der Werkausgabe von Clara Schumann sind die Metronomzahlen komplett weggelassen, so dass hier dem Spieler wegen der gleichzeitig fehlenden verbalen Tempobezeichnungen völlig freie Hand gelassen wird.
Bei fast allen Einspielungen der Kinderszenen weichen die meisten Tempi von den ursprünglichen Metronomangaben in zum Teil eklatanter Weise ab, und zwar überwiegend im Sinne einer deutlichen Verlangsamung. So werden etwa die Stücke Von fremden Ländern und Menschen und Träumerei in der Regel wesentlich langsamer gespielt als es der jeweiligen Metronomzahl entspricht. Es scheint sich das (heute als falsch erkannte]) Gerücht durchgesetzt zu haben, mit Schumanns Metronom habe etwas nicht gestimmt, und deshalb seien seine Vorschriften nicht bindend. In merkwürdigem Gegensatz zu dieser Auffassung steht die Tatsache, dass die meisten Interpreten Schumanns Metronomangaben zu den Waldszenen weitgehend exakt oder zumindest näherungsweise befolgen. Der Schumann-Preisträger Michael Struck plädiert dafür, auch die Metronomzahlen der Kinderszenen ernster zu nehmen.
Rezensionen
Franz Liszt: „In den Kinderszenen [...] offenbart sich jene Anmut, jene immer das Richtige treffende Naivität, jener geistige Zug, der uns bei Kindern oft so eigentümlich berührt und, während ihre Leichtgläubigkeit uns ein Lächeln entlockt, uns zugleich durch die Scharfsinnigkeit ihrer Fragen in Verlegenheit setzt – ein Zug, der auch bei den Kulturanfängen der Völker zu finden ist und jenen Ton phantasievoller Einfalt bildet, welcher die Lust am Wunderbaren weckt.“
Ernst Bücken: „Merkwürdigerweise sind diese schlichten Kompositionen, deren Anregung wohl der Münchener Universalist Graf Pocci mit seinen Liedern und Klavierstücken für Knaben und Mädchen gab, schon von der zeitgenössischen (RelIstab), wie der späteren Kritik, die sie meist in die Sphäre Ludwig Richters hineinversetzte, mißkannt worden. Die Kinderszenen sind […] von einer Phantasie geschaffen, die sich hier ersichtlich nur für einige schöne Augenblicke in das Kinderparadies hineinversetzt und hineingeträumt hat. Biedermeierliche Enge und Beschränktheit aber kennt der Schöpfer der Kinderszenen im Gegensatz zu Ludwig Richter nicht, dessen Phantasie in diesem biedermeierlichen Kreise zu Hause ist, und so sehr, daß sie dieses >Haus überhaupt nicht mehr verläßt. Schumann tut das Gegenteil. In der Kadenz des letzten Tonstückes Der Dichter spricht rüstet seine Phantasie in einem Zitat aus den Phantasiestücken sich wieder zum Flug in das Reich der großen Tonschöpfungen.“
Hans Pfitzner: „Wir schlagen auf: Kinderszenen von Schumann, Nr. 7, Träumerei. Jedes der kleinen Stücke dieses Opus ist musikalisches Gebilde von feinem Reiz, Poesie, Musikalität und vor allem persönlichster Eigenart; aber wer, der die Ursache der Musik versteht, erkennte nicht, daß diese Träumerei ganz einzig hervorragt durch die Qualität der Melodie. Wer sie nicht versteht, für den ist's ein Stückchen in Liedform mit Tonika, Dominante, Unterdominante und den nächstliegenden Tonarten – ohne irgendwelche Abweichung vom Üblichen [...]. Aber für uns Wissende, welch ein Wunder der Eingebung! Was ist darüber zu sagen, das dem, dem diese Melodie [...] nicht ›durch und durch‹ geht, das Verständnis erschließen könnte? – Nichts. Ich kann von dem Adel der Tonsprache reden, von dem absolut Vorbildlosen, Tiefpersönlichen, Ur-eigentümlichen der Melodie, dem Deutschen, Zarten, Traulichen derselben, – es ist, als ob die Worte vor den Tönen im Kreis herum flöhen, sie können addiert alle nicht entfernt das sagen, was die Melodie selbst ausspricht. Der Titel gibt einen leisen Hinweis für die Stimmung, der noch besser verständlich wird, wenn man sich vorstellt, daß es nicht die Träumerei eines Kindes (also nicht eigentlich in die Kinderszenen gehörig) und zweitens eine Träumerei, nicht etwa eine reverie ist, – ein sinniges, ernstes, tief sich verlierendes, feinseeliges und doch kräftiges Gefühl, etwa wie der auf die Hand gestützte bekannte Schumannkopf ahnen läßt. Bis ins Unbegrenzte ließe sich in dieser Weise weiter – schwärmen, ohne den Zauber dieser Musik mit Worten zu beschwören; es ist ein Tropfen Musik aus tiefstem Quell; wir sind auch musikalisch verkommen und verloren, wenn wir uns dieser Schönheit entwöhnen.“