285. Wurmina und Wurm saßen auf der Terrasse ihres neuen Heims, das sie nun gemeinsam bezogen.
"Hoffentlich baggert man uns nicht wieder das Dach vom Kopf!", sagte Wurm lächelnd. "Jetzt, da wir endlich zusammen sind."
Wurmina lächelte und schmiegte sich an Wurm an.
Die Heimfahrt von einem anstrengenden Arbeitstag kam Guby diesmal länger vor als sonst und das Schaukeln der Waggons machte ihn schläfrig. Die Augen fielen ihm zu und ehe er es sich versah, war er in einem tiefen Nickerchen. Im Traum spielte er diverse Szenarien durch, wie sich sein Leben ändern würde, wenn er ein Anderer wäre. Wenn er zum Beispiel nicht kopfschüttelnd zu lauter Musik durch die Wohnung hüpfen würde, bis Mama schimpft, sondern wenn er vielleicht ein Rapper wäre. Behangen mit Goldkettchen und einem dicken Auto vor der protzigen Villa. Aber das war nicht so wirklich seins. Dann doch lieber der DJ auf einem Technofest. Die Kopfhörer auf den Ohren, die Platten fest im Griff, hottet er zu Bumm-Bumm-Beats ab, wackelt mit dem Hintern und schreit voller Elan statts "Hyper Hyper" - ohne es zu merken - "Weiber Weiber". Diffus drang durch die lauten Beats Gelächter zu ihm durch und schlagartig wurde er wach. Alle Leute im Zug starrten ihn an, hielten sich die Bäuche wegen des Lachanfalls, der sie überkam, denn sie mussten mitansehen, wie Guby schlafwandelnd inmitten des Abteils performte. Puterrot im Gesicht setzte sich Guby zurück an seinen Platz, zog die Kappe tief ins Gesicht und hoffte darauf, schnell wieder Zuhause sein zu können.
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ACHTUNG: EXTREM VERSTÖRENDER TEXT. DEN SPOILER BITTE NUR ÖFFNEN, WENN SIE SICH SEELISCH DAZU IN DER LAGE FÜHLEN!
Warnung: Spoiler!
Der Sänger im Wald
Lauf, wenn Du ihn singen hörst!
Der Wald ist eines des ursprünglichsten Gebiete und steht seit jeher für Idylle. Er beruhigt die Seele und ist Heimat sowie Versorgung für Mensch und Tier. Heute auch wohltuende Abwechslung vom städtischen Leben. Er ist aber auch ein Nährboden für die Fantasie, vor allem die kindliche. Ich erinnere mich gerne daran, als kleiner Junge durch den Wald geschlichen zu sein, mit einem Ast als Schwert bewaffnet, irgendwelche schaurigen Kreaturen zu bekämpfen. Es waren in der Tat magische Momente, deren Wert einem erst im Rückblick so richtig klar wurden. Was konnte man nicht alles unter Farnwipfeln und Büschen entdecken! Insekten und Wild, Vögel und vieles mehr. Eine Wunderwelt in der Realität. Unweit eines kleines Baches, der sich in Jahrtausenden sein Bett durch den Waldboden gegraben hatte, befand sich in einer Steilwand aus Kalkstein eine Höhlung. Ein Stotzen, wie man das nennt. Es war nicht einfach, dorthin zu klettern, aber wenn man es geschafft hatte, dann war man in seinem geheimen Reich. Diese Höhle bot mir hin und wieder Unterschlupf. Als es einmal zu einem starken Sommergewitter kam, das urplötzlich über uns hereinbrach, saß ich in dieser Höhle und wartete ab, bis der Regen aufhörte. In dem Stotzen gab es viele kleine Nischen im Gestein, die sich auch prima als Versteck für die kindlichen Schätze anboten. In den Ferien übernachtete ich sogar dort, eingerollt in meinen Schlafsack. Diese Abenteuer werde ich nie vergessen. Auch nicht, dass ich nie Angst hatte, alleine im Wald zu sein. Furcht lag mir fern, was meinen Eltern nicht gefiel. Sie befürchteten, dass ich in meinem jugendlichen Leichtsinn irgendeine Dummheit beging. Wer sollte mir helfen, wenn ich alleine irgendwo verletzt im Wald lag? Heute verstehe ich ihre Besorgnis. Damals war es mir lästig, von ihnen gegängelt zu werden.
Mit meinem Vater und ein paar Freunden waren wir auch öfters am Grillen. Lagerfeuerromantik pur. Wir suchten Steine, legten daraus einen Kreis in den wir wiederum trockenes Holz stapelten, das wir ebenso im Wald fanden. Nur zum Anzünden wurde ein Streichholz benutzt. So viel moderner Komfort durfte dann doch sein. Aber das Würstchen kam auf einen Zweig! Wenn schon, denn schon. Das Aroma dieser am Lagerfeuer gegrillten Würstchen werde ich nie vergessen. Sie waren für mich der Geschmack von Freiheit und Abenteuer. Als die Sonne untergegangen war und sich der Vollmond in seiner ganzen Pracht am wolkenlosen Nachthimmel zeigte, erzählte mein Vater im flackernden Schein des langsam erlöschenden Lagerfeuers schaurige Geschichten, die uns Jungs eine Gänsehaut verursachte, die wir uns natürlich nicht eingestehen wollten. Wir waren ja keine Babys mehr. Und doch verfolgte uns im Schlaf die eine oder andere Schauermär.Eine der Geschichten, die mein Vater erzählte, war die des „Sängers“. Wer ihn im Wald hört, sollte sich schleunigst aus dem Staub machen! Sonst würde man nicht mehr lebend aus dem Wald kommen. Er konnte Geschichten unheimlich fesselnd erzählen.
Eines Tages streifte ich wieder durch den Wald. Fühlte mich wieder als Abenteurer ohne Furcht und Tadel, bekämpfte imaginäre Dämonen und träumte von imposanten Burgen, die sich irgendwo außerhalb des Waldes befanden. Da hörte ich plötzlich von Ferne eine Stimme. Eine, die ganz und gar nicht in den Wald zu passen schien. Mir wurde trotz der sommerlichen Wärme kalt, denn die Stimme wurde lauter, kam näher und sie sang! Ich weiß nicht mehr was, aber es war eine Operette oder etwas in der Art. Sie klang fröhlich, unbeschwert. Und dennoch beklemmte es mich. Die Schauergeschichte am Lagerfeuer fiel mir wieder ein und die Angst kroch mir in sämtliche Glieder. Ich zitterte vor Angst, als die Stimme immer näher kam und ich knackende Äste unter schweren Schritten hörte. Bibbernd stand ich da und machte mir tatsächlich in die Hose. Verhindern konnte ich das nicht. Die Furcht lähmte mich und nahm mir sämtliche Kontrolle über meinen Körper. Ich stand einfach nur zitternd da und war zu keiner Regung fähig. Sehen konnte ich niemanden, ich hörte nur das Singen. Doch das wurde leiser, die Schritte entfernten sich. Minuten später war es still und die typischen Geräusche des Waldes drangen wieder an mein Ohr. Ich holte tief Luft, denn ich gestattete mir wieder richtig zu atmen und ekelte mich ein bisschen vor mir selbst, da ich mich wie ein Kleinkind einnässte. Aber das war nun schon passiert. Nach Hause traute ich mich aber nicht. Was soll Mama denken, wenn ich so heimkam? Also fasste ich mir Mut und ging zu meiner Höhle, wo ich in dem kleinen Bach schnell meine Hose und Unterhose wusch. Solange die trockneten, saß ich in meinem Versteck und hoffte, keinen Gesang zu hören. Der Wald, der mir immer friedlich erschien, hatte seine Harmlosigkeit verloren.
Am frühen Abend zog ich meine Hose wieder an und begab mich auf den Heimweg. Die Angst noch immer in den Knochen, entschied ich mich, einen kleinen Umweg zu laufen. Warum? Das kann ich nicht sagen, es erschien mir nur richtig zu dem Zeitpunkt. Der kleine Schlenker führte mich auf eine Lichtung, die ich sonst nicht besuchte. Was sollte ich da auch? Kaum trat ich durch die Baumstämme hindurch auf die in langen Schatten durch das Abendrot gefärbte Lichtung, blieb mir erneut das Herz stehen! Meine Augen vor Schreck geweitet, den Mund weit offen, sah ich frische Organe auf der Lichtung liegen. Da eine Leber, hier ein Gedärm. Alles schien noch frisch zu sein. Es war feucht und erst ein paar Fliegen darauf. Vorsichtig ging ich ein paar Schritte über die Lichtung. Mein Herz schlug mir bis in den Hals! Was war hier geschehen? Waren das Wilderer, die ein Tier fingen? Nein, sowas gab es hier doch nicht? Hier, wo ich den Gesang hörte…Panisch rannte ich nach Hause, wo ich meinen Eltern erzählte, was ich fand. Sie trösteten mich, versuchten mir mit ihrer Fürsorge die Angst zu nehmen, was dort geschehen sein mag. Trotzdem sie mir sagten, dass da nichts Schlimmes passiert sei, rief mein Vater dennoch die Polizei. In diesem Augenblick sah ich meinen Vater mit anderen Augen. Warum sagte er mir, dass nichts sei, wenn er selber die Polizei ruft, die dann die Lichtung sperrt? Viele Polizisten waren da, sammelten ein, machten Notizen und suchten den Wald ab. Ich war zwar noch ein Kind, aber ich war nicht dumm. Ich verstand durchaus, dass hier was Schlimmes passiert sei. Weil ich mir aber auch nicht die Blöße geben wollte, dass ich Angst vor dem „Sänger“ hatte, also der Geschichte, die mein Vater uns am Lagerfeuer erzählte, erwähnte ich das gar nicht.
Bis heute weiß ich gar nicht, was auf der Lichtung wirklich geschah. Weder in der Zeitung noch im Radio wurde etwas davon erwähnt, obwohl die Polizei mit einem Großaufgebot da war. Das Flatterband war schnell verschwunden und alle im Ort gingen ihrem Leben nach, als ob nichts dergleichen geschehen war. Vielleicht war dem auch so und ich bildete mir mit meiner kindlichen Fantasie auch nur was ein?
Die Jahre vergingen und ich wuchs heran. Die Liebe zum Wald blieb mir auch in den späteren Jahren. Oft verbrachte ich Stunden alleine in meinem geliebten Wald. Zwar bekämpfte ich keine Dämonen mehr, außer meine inneren, aber ein Ort der Fantasie ist der Wald für mich geblieben. Durch die erste Liebe und den vielen Problemen, die einem das Leben stellt, vergaß ich die Vorkommnisse von damals fast völlig. Auch die Schauermär des „Sängers“ war für mich nur noch eine Randnotiz in meiner Erinnerung gewesen. Nicht einmal eine sehr prägnante. Wäre sie es doch besser gewesen. Im Geiste ging ich nochmal meine Erinnerungen durch. Die Frauen, die vielen schönen Momente, die Freude über das erste Auto und die dadurch gewonnene Freiheit, die ein junger Mann so noch nicht hatte. Aber ebenso die Trauer über den Verlust naher Verwandter. Ein seelischer Schmerz, der mich dabei überkommen sollte. Doch Schmerz spüre ich gar nicht mehr. Nicht, seit ich mich nicht schnell genug aus dem Wald machte, als ich „Am Brunnen vor dem Tore“ erklingen hörte. Nun umfängt mich Schwärze, als er mir singend das Herz herausschnitt.