[Fortsetzung von Juli 2024]
Innerlich brodelte es in Will wie in einer Magmakammer kurz vor Ausbruch des Vulkans. Um nicht auf dem Campus irgendwelche Flüche oder Beleidigungen lautstark von sich zu geben, beeilte er sich, möglichst schnell in sein Auto zu kommen. Hastig öffnete er die Tür, sprang hinter das Steuer, warf die Tür zu und ließ seinem Ärger freien Lauf, dass die Scheiben nur so bebten.
Nach dieser Erleichterung holte Will einmal tief Luft, schnappte sein Smartphone und wählte Jennys Nummer.
»Frau van Keks? Will Phiggen hier. Haben Sie ein paar Minuten Zeit? Es gibt Neuigkeiten und ich bräuchte dazu nochmal ihre Hilfe«, sagte der Detektiv, nachdem sich Jenny meldete.
»Ja, gut… dann kommen Sie doch am besten vorbei. Aber nicht Zuhause. Ich bin bei Ophelia. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann kommen Sie dahin«, sagte Jenny.
»Das passt sogar sehr gut, denn dann habe ich beide auf einen Streich«, lachte Will merklich beruhigter, »Ich bin dann gleich da. In rund einer Viertelstunde, ja?«
»Nur zu, wir warten auf Sie«, flötete Jenny mit einem Grinsen im Gesicht.
»Immer herein, Herr Phiggen«, begrüßte Ophelia den Detektiven, der es ausnahmsweise mal schaffte seine Zeitansage einzuhalten und nickend an Ophelia vorbei in das Büro ging, wo Jenny auf einem Sessel saß und in einer Zeitschrift blätterte.
Will fiel auf, dass es sich um ein Fachblatt für Astronomie handelte, was ihn schon erstaunte, denn er hätte nicht vermutet, dass die Autorin für Liebesdramen sich mit solch einer Materie befasst. Er begrüßte auch Jenny und setzte sich ebenfalls in einen der Sessel, während Ophelia ihren massigen Leib wieder hinter dem Schreibtisch platzierte.
»Sie lesen so etwas?«, fragte er Jenny und zeigte dabei auf das Magazin.
»Warum denn nicht?«, kam von ihr schnippisch die Gegenfrage.
»Hätte nicht gedacht, dass Sie das interessiert«, sagte Will achselzuckend.
»Naja, so wirklich auch nicht«, lachte Jenny los, »aber ich lese es aus Recherchegründen für meinen neuen Roman, dessen Handlung auch um die Entwicklung des
James-Webb-Teleskops geht. Das heißt, die Protagonisten haben damit was zu tun. Es ist nicht die Hauptsache des Romans und ich denke nicht, dass meine Leser viel davon wissen wollen, aber es würzt die Geschichte und vielleicht sind auch genau diese Infos das Quentchen, das man braucht um erfolgreich zu sein?«, sagte Jenny.
»Natürlich...«, sagte Will nur knapp und schaute vor sich auf den Boden.
»Aber nun zu den wichtigen Sachen«, warf Ophelia ein, »Sie sagten, Sie hätten Neuigkeiten?«
»Oh ja, also...«, Will Phiggen erzählte von seiner Begegnung mit Prof. Kreuzstein und geizte auch nicht mit Anmerkungen über dessen arrogante Art, »...doch am Ende half er mir dennoch weiter, denn STIPIUS war falsch. Ja, und nun würde mich interessieren, ob Sie etwas mit ST PIUS anfangen können?«
Jenny van Keks legte den Zeigefinger ans Kinn und dachte nach, auch Ophelia wiegte ihren Kopf hin und her, als ob sie es dadurch begünstigen würde, dass der Groschen fällt. Was es wohl tat, denn plötzlich haute sich Ophelia mit der Hand gegen die Stirn.
»Aber ja, natürlich!«, rief sie aus und sowohl Jenny, wie Will sahen sie fragend an. »Das heißt Sankt Pius, also geschrieben St. Pius. Jenny, denk doch...«
Ophelia stand auf und holte eine Fotografie hervor, die Jenny, Ophelia und Bibi auf einer Alm zeigte. Im Hintergrund verschwommen war im Tal ein Turm zu sehen.
»Aber ja doch… das Kloster!«, rief nun auch Jenny.
»Wissen Sie, Herr Phiggen«, erklärte Ophelia, »wir waren öfters in Tirol und der Ort, zu dem diese Alm gehört, ist neben dem Kloster St. Pius. Aber das Kloster ist schon lange verlassen. So weit ich weiß waren die letzten Mönche – oder waren es Nonnen? - in den 1960er-Jahren da. Das Kloster ist verlassen. Nur der Turm der Kirche schlägt noch die Uhrzeit… zumindest war das mal so.«
»Und Sie meinen, Bibi ist nun da?«, fragte Jenny.
Will Phiggen zuckte mit den Achseln und meinte: »Es ist der einzige Hinweis den wir haben. Wissen Sie, ob wir mit dem Kloster Kontakt aufnehmen können?«
»Nein«, sagten gleichzeitig beide wie aus einem Mund.
»Aber Sie wissen, wo es ist, richtig?«, fragte Will.
»Ja«, kam es wieder gleichzeitig von beiden zur Antwort.
»Na, dann los, meine Damen«, sagte Will, erhob sich und ging voraus zur Tür, »Wir machen eine Fahrt!«
Jenny und Ophelia warfen sich kurz einen Blick zu, nickten und schnappten ihre Taschen. Kurzentschlossen folgten sie Will Phiggen zu seinem Auto. Jenny ließ sich in einer eleganten fließenden Bewegung auf den Beifahrersitz nieder, während Will Ophelia die Tür zum Fond öffnete. In Wills Kopf kam die Frage auf, ob er Ophelia überhaupt durch die Öffnung ins Auto bekommen würde, selbst wenn er schieben würde, meinte er, dass es eng wird. Dazu die Sorge, ob seine Hinterachse ihr Gewicht überhaupt aushalten würde. Doch zu seinem Erstaunen schlüpfte Ophelia relativ problemlos auf die Rücksitzbank und richtete sich dort für die Fahrt ein. Will schloss die Türe, setzte sich hinter das Steuer, startete den Motor und sagte: »Na, dann woll’n wa ma!«
Während der Fahrt zog sich der Himmel bedrohlich zu. Ein Unwetter kann zwar im Auto nicht wirklich schaden, aber auf langer Fahrt war das nun auch unangenehm. Die Wolken wurden dunkler, fast schwarz, es stoben starken Böen herum und der Regen wurde stärker und stärker. Bevor die Autofahrt durch den fast sintflutartigen
Wolkenbruch gefährlich wurde, da auch Wills Reifen nicht im besten Zustand waren, entschloss man sich zu einer Pause an der nächsten
Raststätte. Kaum parkten sie das Auto und huschten über den Platz in das Gebäude, nahm das Unwetter so richtig Fahrt auf. Der Regen klatschte mit ungeheurer Wucht, durchsetzt von Hagelkörnern herunter. Der Sturm peitschte diese Mischung gegen die Fensterscheiben, die sich bedrohlich bogen. Die Drei waren froh nicht da draußen in dieser Apokalypse zu sein. Sie tranken lieber Kaffee, während Ophelia mehr den Apfelkuchen im Auge hatte und lieber gleich zwei Stücke aß. Natürlich nur auf den Schreck des Unwetters wegen. Man muss ja die Nerven beruhigen. Jenny erzählte Anekdoten von früher, was man dort auf der Alm alles trieb, wobei ihr aus Versehen auch herausrutschte, was man nicht ganz jugendfreies trieb und schmunzelte über die roten Wangen von Will, der im Grunde doch noch Amerikaner und in derlei Dingen eher verklemmt war. Trotzdem hörte er aufmerksam zu und sortierte in Gedanken die Informationen, die er dadurch gewann, selbst wenn er nicht sagen konnte, welche davon von Nutzen wären oder nicht. Erst, wenn er sie brauchen würde, wüsste er es. So verging auch die Zeit und draußen beruhigte sich das Wetter. Es klarte sogar ausgesprochen schnell wieder auf und man machte sich an die Weiterfahrt. Erneut war Will erstaunt, wie leicht Ophelia auf die Rücksitzbank kam, aber ihm sollte das nur recht sein. Als Letzter setzte er sich hinter das Lenkrad, startete den Motor, setzte zurück und fuhr mit den Worten: »Nächster Halt: St. Pius« auf die Ausfahrt zur Autobahn zu.
***
Pittoresk lag das Dorf in dem Tal eingebettet. Urige Bauernhäuser um den obligatorischen Brunnen herum, Weiden die sich die Hänge der Berge hinaufzogen, wo sich die Almen in der Berglandschaft verloren. Die grauen Felsmassive hoben sich gut vom blauen wolkenfreien Himmel ab und das saftige Grün der Wiesen strahlte, wie in bester Werbung. Der Ort schien ein verschlafenes Nest zu sein, denn außer einem alten Mann, der auf einer Bank vor dem Rathaus saß, war weit und breit kein Mensch zu sehen. Will überlegte, ob er kurz am Gasthof halten und sich nach einer Übernachtungsmöglichkeit erkundigen sollte, verwarf den Gedanken aber, denn der Turm des Klosters war schon am Rand des Ortes zu sehen und er wähnte sich am Ziel seiner Aufgabe. Also trat er ein letztes Mal aufs Gaspedal und fuhr schnurstracks zum Kloster.
»Das ist es«, sagte Jenny noch, als das alte Anwesen immer näher kam.
»Was ist denn das?«, fragte Ophelia verwundert.
Will steuerte das Auto durch den großen Torbogen in den Innenhof der Anlage. Alle Drei trauten ihren Augen nicht. Es tanzten ausgelassen zu lauter fröhlicher Musik bunt gekleidete Menschen herum, lachten und tranken, wie auf der tollsten Party.
»Was ist denn hier los?«, murmelte Will Phiggen, der ebenso wie Jenny und Ophelia vor Staunen den Mund nicht zu bekam.
Plötzlich tanzte eine nackte Frau mit einem Federschmuck auf dem Kopf an die Autotür heran und klopfte gegen das Fenster. Will kurbelte die Scheibe herunter und starrte die Nackte an.
»Jo, wos machst ihr denn da? Ihr seht gar net aus, als ob ihr feiern wollt’«, fragte sie lachend, doch tanzte sie plötzlich wieder zurück zu den vielen anderen Menschen, die mehr oder weniger bunt und durchgeknallt gekleidet waren.
Die Drei verließen das Auto und schauten sich die Wände des Klosters an. Will bemerkte die Regenbogenfahne, die man auf der Innenseite über dem Torbogen anbrachte und langsam dämmerte ihm alles.
»Kommt, trinkt was…. Auf gehts!«, lachte die Nackte, die wieder bei Ophelia, Jenny und Will war und drückte ihnen jeweils eine kleine Flasche mit irgendeinem bunten Cocktail in die Hand. Als sich Jenny artig bedanken wollte, bekam sie von der Nackten einen kräftigen Klaps auf den Hintern, bevor sie sich mit einer Pirouette abdrehte und wieder zu den anderen Feiernden tänzelte.
»Eine …. äh… seltsame Person...«, meinte Ophelia.
Jenny nahm einen Schluck des Cocktails und nickte nur.
Will hingegen ging direkt zu der Gruppe Feierwütiger und fragte sich durch, wobei er den meisten direkt ins Ohr schreien musste, weil die Musik arg laut war. Als dann einer verständig nickte und kurz verschwand, kam Will lächelnd zu Ophelia und Jenny zurück.
»Haben Sie was erfah….«, begann Ophelia, doch wurde jäh durch einen Schrei unterbrochen.
»Jennnnnyyyyyyyyyyyy! Ophiiiiiiiii!«, hörte sie freudig Bibi rufen, die auf riesigen Highheels in einem engen Lederdress über den Hof gelaufen kam und ihre Freundinnen zur Begrüßung in den Arm nahm.
Will stellte sich beiseite und genoß diese herzliche Wiedersehensfreude. Sowohl Jenny, wie auch Ophelia lagen sich fast weinend mit Bibi in den Armen und auch Will freute sich, Bibi bei so guter Laune zu sehen. Auch wenn er sie nicht kannte und zu Beginn seiner Ermittlungen vom Schlimmsten ausging.
»Sag mal, Du Luder«, begann Jenny dann zu schimpfen, »was fällt Dir eigentlich ein einfach so zu verschwinden?«
»Ja, aber echt mal!«, maulte auch Ophelia los, »Wir waren krank vor Sorge!«
»Ah geh, i waas…. Awa…. «, begann Bibi, die sich kleine Freudentränen aus den braunen Augen strich, »ich brauchte dringend eine Auszeit. Zeit für mich. Ich bin damals einfach los. Von jetzt auf nachher. Nur Bargeld und ein paar Klamotten. Kein Handy, kein Garnix. Ohne Ziel und Plan… einfach weg. Ja und irgendwie landete ich dann hier. Wollte auf die Alm, einfach Ruhe. Da sah ich das Kloster und dass es von einem schwul-lesbischen Verein übernommen wurde. Sie betreiben hier nun den Regenbogenhafen. Ein Zufluchtsort für alle, die Probleme mit ihrem Coming-Out haben oder dadurch haben. Hier bekommen sie alle Hilfe und damit man sieht, dass man trotzdem Freude am Leben hat, geht hier die Sause ab.«
»Du hättest doch was sagen können!«, maulte Jenny.
»Eh, awa i … ich hatte soviel Spaß hier… da …. okay, ich gebe zu, das war falsch. Aber wisst ihr was? Schwamm drüber… ihr seids jetzt hier und wir machen einen drauf. Kommt!«, sagte Bibi und schnappte die beiden an der Hand.
Sie zog sie förmlich mit in den Pulk der Feiernden und tanzte wie von Sinnen los. Jenny fiel in den Tanz ein, alleine aus Freude über das Wiedersehen, selbst Ophelia wiegte ihre Pfunde im Takt der Musik. Will Phiggen lehnte sich gegen den Kotflügel seines alten Autos und schaute den Damen zu. Er starrte sogar auf die knackigen Pobacken von Bibi, die in der Lederkluft ausgesprochen betont wurden und dachte sich nur seinen Teil. Er ging in Gedanken nochmal die letzten Tage durch. Rief sich ins Gedächtnis, dass sie vor einem gewalttätigen Mann floh. Stets in Angst vor ihm lebte. Vielleicht hörte die Flucht gar nicht auf, sondern setzte sich nur immer weiter fort, bis sie letztlich hier im Regenbogenhafen landete. Vielleicht gehörte sie auch schon immer hier hin, selbst als das Kloster nur eine verlassene Ruine war? Noch nicht reif für diese Bestimmung? Gibt es Bestimmung? Gibt es sowas wie einen göttlichen, vorbestimmten Plan, den jeder hat? Ist das das, was man Schicksal nennt? Und wenn dem so wäre, wäre es dann nicht egal, was man - egal wie - machen würde? Ist man nicht Schmied seines eigenen Glücks? Oder schmiedet man nur, was schon längst fertig ist und beult nur hier und da was aus? In Wills Kopf kreisten die Gedanken und je mehr er diese zuließ, umso mehr dachte er plötzlich an Rosi und ihren Enkel, dachte an seinen Bruder, der fernab lebte, dachte an sein eigenes Leben.
Die Gedanken, die ihn schwermütig werden ließen, unterbrach Jenny, die plötzlich – ohne dass Will es merkte – vor ihm stand und sagte: »Ich muss mich bei Ihnen bedanken, Herr Phiggen. Sie haben Bibi tatsächlich gefunden.«
Mit diesen Worten reichte sie ihm einen weiteren Cockail, den er dankend annahm.
»Wir haben eben beschlossen, dass wir ein paar Tage hierbleiben«, sagte Jenny. »Wenn Sie möchten, dann bleiben Sie als unser Gast auch hier. Setzen Sie ihre Kosten einfach auf die Rechnung.«
»Das ist sehr großzügig von Ihnen, Frau van Keks«, sagte Will seufzend, »aber das ist nichts für mich. Nehmen Sie das nicht persönlich. Es hat nichts mit Ihnen oder Ihrer Anwesenheit zu tun. Im Gegenteil. Die habe ich durchaus genossen, wenn ich das sagen darf. Aber, es sind … ach, ich … sollte nach Hause.«
»Das kann ich sogar verstehen. Haben Sie vielen Dank für alles, was Sie taten. Gute Heimreise«, sagte Jenny.
»Danke. Ich werde dann mal...«, sagte Will Phiggen, der sich umdrehte, die Autotür öffnete und sich dann nochmal zu Jenny wandte, »Frau van Keks?«
»Ja?«
»Rechnung folgt«, lachte Will, salutierte wie ein amerikanischer Soldat zum Abschied, setzte sich hinter das Lenkrad, schloss die Tür und ließ den Motor an.
Jenny lachte, nickte dann zum Einverständnis und winkte Will Phiggen nach, als er den Klosterhof verließ und sich die Lichtkegel seines Autos in der hereinbrechenenden Nacht verloren.
E N D E