Warm und hell schien die Sonne durch die dicken Fensterscheiben, die daran geklebten Folienbilder malten ein buntes Mosaik auf dem grauen Boden. Der sanfte Duft von Putzmitteln hing in der Luft. Zitronenfrische setzte sich gegen den Geruch des Desinfektionsmittels durch. Alles war sauber und ordentlich, ohne dabei steril und leblos zu wirken. Aus verborgenen Lautsprechern an der Decke drang leise Musik. Eine Frauenstimme sang ein Lied über den Frühling, davon, dass bald wieder die Blumen blühen würden. All das und noch mehr nahm Mara wahr, während sie sich an die Hand ihrer Mutter klammerte. Zusammen mit einer Frau, die sich ihnen als Schwester Martha vorgestellt hatte, liefen sie einen langen Gang entlang. Auf ihrem Weg passierten sie viele Türen. Man hatte sie bunt bemalt und mit Holzbuchstaben die Namen ihrer Bewohner daran geklebt.
»Wie viele Kinder sind in einem Zimmer untergebracht?«, fragte Maras Mutter, dabei klang ihre Stimme müde und irgendwie dumpf.
»In jedem der Zimmer schlafen sechs kleine Engelchen. Aber bei Tag fliegen sie aus und dürfen sich hier frei bewegen.« Marthas Stimme klang nicht müde, obwohl sie älter war, wirkte sie energiegeladen.
Mara hob zum ersten Mal den Blick. Sie wollte sich die Frau mit der fröhlichen Stimme genauer ansehen. Auf dem Kopf von Martha saß ein buntes Kopftuch, ein paar graue Strähnen lugten darunter hervor. Sie trug eine hellrosa Hose und dazu eine blaue Bluse. Über ihrer rechten Brust war eine rosa Schleife befestigt. Ihre Füße steckten in Gesundheitssandalen, an deren Schnallen Sonnenblumen befestigt waren. Hätte Mara sie beschreiben müssen, so hätte sie für sie das Wort farbenfroh gewählt. Doch da niemand nach Maras Meinung fragte, schwieg sie lieber.
»Du wirst hier schnell Freunde finden, dann könnt ihr den ganzen Tag über spielen und die Zeit vergeht wie im Flug«, wendete sich Martha nun tatsächlich an sie.
Dabei lächelte sie freundlich. Um ihre braunen Augen bildeten sich Fältchen. Sie waren recht tief, ob sie wohl daher kamen, dass diese Frau oft lächelte? Wenn ja, woher kamen denn die Falten auf ihrer Stirn? Falten wie diese kannte Mara von ihrer Mutter und auch von ihrem Vater. Sie kamen zusammen mit einem Brief von Maras Arzt. Unerwartet und ungewollt flatterten sie vor einem Jahr in ihr Leben.
Kurz nach Maras siebtem Geburtstag und seither war nichts mehr wie zuvor. In diesem Jahr war Mara kaum in der Schule gewesen. Dafür war sie bei vielen Ärzten gewesen, musste von einer weißen Praxis zur nächsten, von dort aus dann in Krankenhäuser. Immer wieder war sie von ihren Eltern getrennt worden. Tagsüber umgeben von fremden Erwachsenen und nachts ganz alleine in ihrem Bettchen. Die bloße Erinnerung daran brachte sie zum Zittern. Tränen brannten hinter ihren Augen, doch sie wollte nicht weinen, da sonst auch ihre Mutter wieder geweint hätte. Eine Hand strich behutsam über ihren Kopf. Vor wenigen Wochen hätte sie dort dichte blonde Locken gefunden, doch davon war nun nichts mehr zu sehen. Die Spritzen haben sie ausfallen lassen und jetzt wuchs dort nichts mehr.
»Hab keine Angst, Mara, hier passen wir gut auf dich auf. Nicht nur auf deinen Körper, sondern auf dich.«
Mara sah sie ungläubig an. Erwachsene versprechen vieles und doch hielten sie kaum eines dieser Versprechen. Wie sollten sie auch? Es gab Dinge, auf die sie keinen Einfluss nehmen konnten. Sie konnten nicht zaubern.
»Du denkst, dass wir das nicht können. Da hast du recht. Doch unser Wächter kann es! Komm, ich zeige ihn dir.«
Martha reckte ihr auffordernd die Hand entgegen. Zögerlich griff Mara danach. Konnte es sein, dass diese farbenfrohe Frau sie verstand? Die Hand der Schwester war kräftig und warm, ihr Griff dennoch sanft. Da gab es einen Ruck und Mara wurde einfach mitgezogen.
Mara atmete schwer, so schnell war sie schon lange nicht mehr gelaufen. Ihre Eltern wollten nicht, dass sie sich verausgabte. Sie durfte kaum noch nach draußen, weder auf die Schaukel noch die Rutsche, ja noch nicht einmal in den Sandkasten. Auch jetzt versuchte ihre Mama, sie zu ermahnen, doch Martha unterbrach sie, indem sie den Zeigefinger hob.
»Hier haben wir keine Patienten. Wir haben Kinder, die eine lange Party feiern. Sie sollen toben und Spaß haben. Unser Wächter hat dabei immer ein Auge auf sie.«
»Spaß?«, murmelte Mara leise.
Zuvor hatte sie nie mit Ärzten oder Pflegern geredet. Sie sprachen immer nur mit ihren Eltern, fast so als sei sie selbst nur ein Geist. Bei Schwester Martha jedoch war das anders. Sie schien nur Augen für Mara zu haben und das war schön, gab ihr Mut. So viel sogar, dass sie den Klammergriff um die Hand ihrer Mama löste.
»Ich möchte auch Spaß haben, bitte«, sprach sie weiter und sah dabei die Schwester an.
»Den garantiere ich dir. Wir holen dir noch dein Mitgliedsband und dann gehts auch schon los.«
Martha hielt sie immer noch an der Hand und führte sie in einen großen Saal. Tische und Sessel hatte man in einem großen Kreis aufgestellt, in dessen Zentrum ein weiterer Tisch stand. Dort waren Spiele aufgebaut, ein Turm aus Bausteinen stand daneben, Buntstifte und Papier lagen ebenfalls parat.
»Hier treffen wir uns, um zusammen zu essen, aber auch um zu spielen. Jetzt ist es nur so ruhig, weil Mittagsruhe ist, sonst summt es wie in einem Bienenstock«, erklärte Martha.
»Wildes Spielen ist gefährlich«, wiederholte Mara, was sie immer von ihren Eltern und Ärzten zu hören bekommen hatte.
»Nicht, wenn er auf uns aufpasst.«
Martha deutet in eine Ecke des Raumes. Mara folgte dem Fingerzeig und da sah sie ihn, den Wächter. Es war ein großer Teddybär in einem goldenen Anzug. Er saß auf einem Thron aus buntbemalten Eisstielen. Zusammen mit Martha trat sie näher, bemerkte die bronzene Glocke, die über ihm hing. Das Seil, um sie zu läuten, lag in einer seiner Tatzen.
»Hallo Wächterteddy, ich möchte dir Mara vorstellen. Ich bitte dich, von heute an ganz besonders gut auf sie aufzupassen.« Martha verneigte sich vor dem Teddybären und wurde dann mäuschenstill. Kurz darauf sah sie wieder zu Mara. »Natürlich, wie konnte ich das nur vergessen?«, sie schlug sich gegen die Stirn und begann in ihrer Hosentasche zu wühlen. Sie zog ein goldenes Band aus Stoff daraus hervor und legte es Mara um das linke Armgelenk, um es dort zu verknoten. »Ist das mein Mitgliedsband?«, fragte sie und besah sich das Bändchen.
Martha nickte. »Das ist hier Tradition. Bis zu dem Tag, an dem du die hier läutest«, sie deutete auf die Glocke über dem Wächterteddy.
»Was wird dann aus dem Band?«, fragte Mara weiter. Das alles hier machte sie neugierig.
»Das sind magische Bändchen. Sie sammeln Mut und Kraft durch ihre Träger. Kraft, die anderen fehlt, wenn sie hier herkommen. Sieh dir mal ganz genau den Anzug des Wächters an, dann siehst du, was geschieht, wenn ihr heim geht.«
Mara kam der Aufforderung nach, trat näher an den Teddy heran, um sich seine Kleidung anzusehen. Tatsächlich bestanden sie aus unzähligen Bändchen. Man hatte die Hose, das Hemd und sogar die Weste daraus genäht.
»Das sind ja viele«, staunte sie und strich behutsam darüber.
Ganz plötzlich fühlte Mara sich leicht wie eine Feder. Wenn so viele Kinder wieder nachhause gegangen waren, dann würde auch sie irgendwann gehen können. Dann konnte sie endlich wieder ein Kind sein, draußen spielen und zur Schule gehen. Alles nachholen, was sie das letzte Jahr über verpasst hatte. Ihr Blick huschte zu ihrer Mama und zum ersten Mal seit langem schaffte sie es zu lächeln, ohne dabei ihre Angst verbergen zu müssen. In den Augen ihrer Mama schimmerten Tränen, sicher fürchtete sie sich, so wie alle Mamas, die ihre Kinder lieben. Sie griff nach der Hand ihrer Mama und legte sie auf die Brust des Teddys.
»Hab keine Angst, Mama. Der Wächterteddy beschützt mich und ganz bald werde ich die Glocke läuten. Dann darf ich wieder nachhause und muss nie wieder fort.«
Ihre Mama blinzelte die Tränen fort, drückte sie ganz fest an sich. »Ganz sicher«, schniefte sie. Mara fühlte sich glücklich. Ein Gefühl, das sie so lange vermisst hatte.
Mara war schon einen ganzen Monat hier, Martha hatte Wort gehalten, sie hatte wirklich Freunde gefunden. Mit fünf von ihnen teilte sie sich sogar ein Zimmer, so war die Mittagsruhe nie wirklich ruhig. Tagsüber spielten sie miteinander und vor dem Zubettgehen erzählten sie sich oft Geschichten. Doch nicht nur die Kinder, auch Schwester Martha und ein Pfleger, oder wie er genannt werden wollte, Bruder Thomas. Ein großer Mann, mit breiten Schultern und einer Stimme tief wie das Brummen eines Bären. Anfangs hatte Mara Angst vor ihm. Das hatte sich schnell gelegt, nachdem er ihr und ihren Zimmergenossen Märchen vorgelesen hatte. Dabei hatte er jeder Figur eine eigene Stimme gegeben. Andreas, einer der älteren in ihrem Zimmer, hatte dabei so heftig gelacht, dass ihm die Milch aus der Nase geschossen war. Hier durften sie wirklich Kinder sein, auch wenn ihnen die Spritzen und Behandlungen nicht erspart blieben. So nahm man ihnen die Angst und schenkte ihnen eine schöne Zeit. In dem Monat, den sie bereits hier verbracht hatte, hatten es schon vier Kinder geschafft, die Glocke zu läuten. Das gab Mara noch mehr Mut. Davon erzählte sie auch ihren Eltern, wenn sie zu Besuch kamen. Damals dachte sie, sie seien einfach nur müde und hätten darum nicht die Kraft, so ausgelassen wie sie zu lachen. Andreas aber erzählte ihr eine andere Geschichte.
Es war kurz nachdem ihre Eltern sich verabschiedet hatten, um wieder nachhause zu fahren, als sie zusammen mit ihren Freunden in der Kissenburg saß, die sie zusammen mit Bruder Thomas gebaut hatten.
»Deine Eltern sind nicht müde. Sie sind erwachsen und sie fürchten sich vor dem K-Monster in uns«, eröffnete Andreas und sah sie aus seinen wasserblauen Augen an.
»Was ist ein K-Monster?«, wollte sie wissen.
Er räusperte sich und machte sich groß. Das tat er oft, vor allem dann, wenn er mal wieder darauf anspielte, dass er der Älteste unter ihnen war.
»Das K-Monster ist in uns allen, darum sind wir hier und das hier«, er reckte seine Hand nach vorn, sodass alle einen Blick auf sein goldenes Band werfen konnten, »zeigt es jedem, der uns sieht. Darum sehen uns die Erwachsenen auch alle immer so mitleidig an. Das K-Monster macht uns schwach und müde. Um es loszuwerden, gibt man uns Spritzen und Medizin. Die Haare fallen uns aus, weil es das so will! Sicher baut es Nester daraus«, sprach er weiter.
»Blödsinn, sonst hätte man die Nester sicher schon gefunden.« Marko, ein anderer Junge, schüttelte übertrieben den Kopf.
Mindy hingegen, die neben ihm hockte, strich sich über die Glatze. Eine rote Narbe lief darüber. Man hatte sie vor einem Jahr dort operiert. »Sie haben es aus meinem Kopf geholt, aber trotzdem sind Babys vom K-Monster in mir drinnen, sicher wegen der Nester«, sagte sie und senkte den Blick.
Andreas rutschte näher an sie heran und legte ihr einen Arm um die Schulter. Das war auch etwas, das er oft tat. Er tröstete die Kleineren und darin war er noch besser als im Geschichten erzählen.
»Das K-Monster ist geschickt, aber die Ärzte hier sind noch viel geschickter. Der Wächterteddy hilft ihnen und auch uns. Nur weil sie das Monster so oft besiegen, kann er einen so schönen Anzug aus goldenen Bändern tragen.« Er hauchte ihr einen Kuss auf die wulstige Narbe. »Das ist dein erstes Anzeichen als seine mutige Kriegerin. Das K-Monster hast du besiegt, die anderen kriegst du auch noch klein«, versicherte er Mindy und entlockte ihr damit ein Lächeln.
Mara biss sich auf die Lippen. Zum einen, weil sie wusste, warum Mindy rot wurde und zum anderen, weil auch sie bald ein solches Abzeichen tragen würde. Das K-Monster hatte sich in ihren Magen eingenistet und seine Babys schwammen in ihrem Blut. Was das bedeutete, wusste sie nicht wirklich, nur dass man ihren Bauch aufschneiden würde, hatte sie begriffen. Ihre Eltern hatten versucht, es ihr zu erklären. Als ihnen die Worte gefehlt hatten, war Bruder Thomas ihnen zur Hilfe gekommen. Am Wächterteddy hatte er ihr gezeigt, wo man schneiden würde, ihr gesagt, dass sie die ganze Zeit über schlafen und träumen würde. Später war sie noch einmal zum Wächterteddy gegangen, hatte ihm gesagt, wie sehr sie sich davor fürchtet und ihn danach einfach in den Arm genommen.
»Der Wächter wird auf uns alle aufpassen, er hat meine Angst weggezaubert. Wenn du willst, Mindy, gehen wir später zu ihm und er lässt auch deine Sorgen verschwinden«, sagte sie an ihre Freundin gewandt und lächelte ihr dabei entgegen. Mindy nickte und schmiegte sich dabei enger an Andreas.
Nach den Geschichten über das K-Monster waren Mara und Mindy gleich zum Wächterteddy gegangen. Sie hatten sich an ihn gedrückt und ihm beide von ihren Ängsten erzählt. Sie hatten aber auch über ihre Träume von der Zukunft gesprochen, davon, was sie tun wollten, wenn das K-Monster sie endlich in Ruhe lassen würde. Mindy wollte wie Schwester Martha werden, mutig und liebevoll. Sie wollte alles, was sie erlebt hatte, mit anderen teilen, um ihnen zu zeigen, dass niemand alleine war, so wie Martha es auch tat. Die rosa Schleife der Schwester war auch ein Abzeichen. Martha hatte ihr eigenes K-Monster vor Jahren besiegt und beschlossen, anderen beim Kampf gegen ihre Monster zu helfen.
»Schon damals war der Wächterteddy hier«, sagte Mindy und strich dem Teddy über das braune Fell. »Auch als Bruder Thomas als Patient hier war. Er hat mir auch gesagt, dass, wenn wir schlafen gehen, der Wächter aufwacht und von Zimmer zu Zimmer geht, um uns schöne Träume zu schenken.«
»Wird er mir auch einen Traum schenken, wenn sie das K-Monster aus meinem Bauch holen?« Mara hatte diese Frage nicht stellen wollen, doch so dicht an den Teddy gedrückt, war sie ihr einfach über die Lippen geflossen. Die Angst davor, auch wenn sie sie nicht länger zum Weinen brachte, war dennoch immer noch da.
»Natürlich wird er das. Er ist ein Wächterteddy, er beschützt uns immer. Wenn du danach aufwachst, wird es nicht mehr lange dauern und du darfst die Glocke läuten.«
»Ich werde nachhause gehen. Wieder in meinem eigenen Zimmer schlafen. Mein Bändchen lasse ich hier bei ihm und irgendwann, wenn ich erwachsen bin - wenn wir alle erwachsen sind - treffen wir uns wieder«, spann Mara die Geschichte weiter und klammerte sich an die Tatze des Teddys. Das war eine schöne Vorstellung, davon wollte sie träumen, während man das K-Monster aus ihr schnitt. Sie und ihre Freunde, zusammen mit dem Wächterteddy, umringt von Kindern, vielleicht sogar ihre eigenen Kinder? »Lieber Wächterteddy, ich bitte dich um einen schönen Traum von der Zukunft, wenn mein Monster aus meinem Bauch geschnitten wird. Lass uns alle wieder zurück nachhause gehen. Wir wollen erwachsen werden. Wir wollen uns nie vergessen und dich auch nicht. Wenn wir dann alle groß sind, kommen wir wieder. Wir besuchen dich und helfen dir dabei, auf andere aufzupassen.« Sie drückte sich ganz fest an den Teddy, genoss das warme Fell an ihren kalten Wangen und hoffte zugleich, dass Mindy die Tränen nicht gesehen hatte, die darüber gelaufen waren.
Die folgenden Wochen vergingen wie im Flug. Immer wieder durfte Mara dabei sein, wenn eines der Kinder die Glocke läutete. Es war jedes Mal eine richtige kleine Zeremonie. Der erste Freund aus ihrem Zimmer, von dem sie sich verabschiedete, war Marko. Er trat an den Wächterbären, nahm sein goldenes Band ab und legte es um die Tatze des Bären, ehe er nach dem Seil der Glocke griff. Mit einem breiten Lächeln bedankte er sich bei allen, die ihn bei seinem Kampf gegen das K-Monster begleitet hatten. Er sprach davon, was er sich von der Zukunft wünschte, ehe er sich auch bei dem Wächterteddy bedankte. Erst danach läutete er die Glocke. Mara wird den Klang des Glockenschlages nie wieder vergessen. So musste Hoffnung klingen!
Auch Andreas und Mindy durfte sie verabschieden. Trotz der Trauer über ihren Fortgang freute Mara sich sehr für sie und auch über das Versprechen, welches sie sich gaben. Ihre Operation stand kurz bevor, doch danach wollten sie sich alle wieder sehen. Dann, wenn sie alle ihre Monster bezwungen hatten und endlich wieder Kinder sein durften. Obwohl sie sich vor der Operation fürchtete, war da auch eine gewisse Vorfreude auf das, was sie danach erwartete. Nacht für Nacht träume sie davon, wie sie sich alle wieder sehen würden und wenn sie wegen all der Gedanken nicht richtig zur Ruhe kommen wollte, schlich sie sich zum Wächterteddy. Sie setzte sich auf den Boden neben ihn und erzählte ihm von allem, was sie so ruhelos machte.
Thomas fand sie eines Morgens neben dem Thron aus Eisstielen. »Hast wohl deinen Freund besucht?«
Mehr hatte er nicht gesagt und sie danach einfach auf ihr Zimmer gebracht, sie in ihr Bett gelegt und zugedeckt.
Thomas war es auch, der sie zusammen mit Martha am Tag ihrer Operation begleitete. Bis in den Operationssaal, wo ihre Eltern leider nicht hin durften. Zwischen all den langweilig gekleideten Ärzten fielen diese beiden auf wie Pfauen in einem Schwarm Saatkrähen.
»Denk daran, wir alle warten auf dich. Wir haben dich sehr lieb«, sagte Martha, als sie ihr über die Hand streichelte, ganz vorsichtig, um nicht gegen die Nadel zu stoßen, die darin steckte.
»Der Wächterteddy wird dir schöne Träume schenken, das hat er bei mir damals auch.« Thomas legte ihr eine Hand an die Wange.
Mara konnte nicht anders, als ihn anzulächeln, auch wenn ihr ganz flau im Magen war. Diese Menschen, sie waren für sie zur Familie geworden, warum also sollten sie lügen? Ihr Blick heftete sich für eine Sekunde an das Ziffernblatt von Thomas Uhr. Der 14. Februar, Valentinstag, ihr Geburtstag. Über zwei Jahre seit das K-Monster ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte. Bald würde sie schlafen, sie würde träumen und wenn sie erwachte, war es endlich vorbei. Aber bevor es so weit war, hatte sie noch etwas Wichtiges zu sagen! »Ich habe euch auch sehr lieb und wenn ich groß bin, will ich wie ihr werden.«
Kurz darauf wurde es dunkel, die Medikamente wirkten und Mara glitt langsam in den Schlaf.
Bis heute kann Mara sich nicht daran erinnern, was geschehen war. Auch Jahre später, nun, da sie selbst erwachsen ist, ist alles wie ein Wirbel aus Farben und Klängen. Nur eine kleine rote Narbe ist ihr geblieben. Zeigt ihr, wo die Ärzte einst das K-Monster gepackt und aus ihrem Bauch gezogen haben. Danach war sie endlich wieder ein Kind gewesen. Sie hatte draußen spielen dürfen, war wieder zur Schule gegangen und Jahr um Jahr gewachsen. Was sie jedoch nie vergessen hatte, war das Versprechen, welches sie und ihre Freunde sich gegeben hatten. Daran hatte sie immer festgehalten, sich vorgestellt, wie sie ihnen von ihren glücklichsten Zeiten erzählen würde, während sie zusammen vor dem Wächterteddy standen. Sie würden lachen und fröhlich sein, während sie Kindern davon erzählten, dass das K-Monster schrecklich, doch nicht unbesiegbar war.
Heute war es endlich so weit - 20 Jahre später.
Mit traumwandlerischer Sicherheit war sie durch die langen Gänge gewandert, hat Schwester Martha und Bruder Thomas umarmt, als sie sie gesehen hat. Sie hatten sich in all der Zeit nicht verändert. Dann war sie in den Speisesaal gegangen. Alles war wie damals, selbst das kleine Smiley, welches Andreas auf einem der Tische gekritzelt hatte, grinste immer noch frech vor sich hin. Ihre Schritte aber führen sie fort von den Tischen, hin zu der Ecke, in der immer noch der Wächter saß. Auch er hatte sich nicht verändert, sah ihr mit seinen glänzenden Glasaugen entgegen. »Schön, dich wiederzusehen«, begrüßte sie ihn und strich ihm dabei behutsam über das Fell.
Wie seltsam es doch war, ihm gegenüberzustehen. Immer noch glaubte sie die Magie zu spüren, von der Martha und Thomas so oft erzählt hatten. Ihr schien es so, als sei auch er gewachsen. Warum sonst sollte sie ihm auch immer noch in die Augen blicken können, ohne sich hinabzubeugen? »Hallo Mara! Schön, dass du hier bist«, war da eine Stimme zu hören.
Angenehm und weich, dennoch kraftvoll, aber woher? Unsicher begann sie sich umzusehen, vielleicht erlaubte sich ja einer ihrer Freunde einen Scherz? Sicher Andreas, er war immer schon so gewesen!
Wie er wohl jetzt aussah?
»Lass das, komm raus. Ich bin kein Kind mehr, das sich so einfach erschrecken lässt.«
»Das ist wahr, doch du warst immer schon mutig, selbst wenn du Angst hattest.« Ein Luftzug jagte ihr einen Schauer über den Rücken. »Du hast mutig gegen das K-Monster gekämpft. Alles, was ich tun konnte, war dir einen Traum zu schenken, hat er dir denn gefallen?«
Mit einem Ruck fuhr Mara herum, blickte dem Wächterteddy geradewegs in die Augen. Er war von seinem Thron aufgestanden, sein Anzug aus Goldbändern raschelte leise, als er den Kopf zur Seite neigte.
»Ich erinnere mich nicht mehr an den Traum«, gab sie zu, als sie den ersten Schrecken überwunden hatte. »Aber ich erinnere mich daran, dass ich immer zu dir gekommen bin, wenn ich traurig war oder Angst hatte. Dafür bin ich dir sehr dankbar«, sprach sie weiter und reckte dem Teddy die Hand entgegen. Aber was war das? Woher kam das Armband? Hatte sie es nicht bei ihrem Abschied abgenommen und die Glocke geläutet?
»Hab keine Angst, Mara, ich passe auch weiterhin auf dich auf. Ich werde immer an deiner Seite sein.«
Vor ihr erschien das Glockenseil, schwebte geisterhaft in der immer dichter werdenden Dunkelheit. »Es ist Zeit! Läute die Glocke und ich bringe dich nachhause.«
Wie von selbst griff ihre Hand nach dem Seil. »Wird es weh tun?«
»Nein, das lasse ich nicht zu. Ich beschütze euch, Kinder, das ist es doch, was Teddybären tun.«
Aus seinen Worten schöpfte sie die Kraft, um an dem Seil zu ziehen. So oft hatte sie die Glocke gehört, sie immer mit einem Abschied verbunden und auch dieses Mal war ihr Klang ein Lebewohl.
Mara war nie aus ihrem Traum erwacht. Sie hatte mutig gegen das K-Monster gekämpft, die Hoffnung auf einen Sieg nie aufgegeben. Doch anders als in Märchen siegt im Leben nicht immer das Gute. Maras Leben endete viel zu früh, es war von Angst und Verzicht geprägt, dennoch starb sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Mit Liebe im Herzen, umfangen von einem schönen Traum, weich und sanft, wie das Fell des Teddybären, dem sie so oft von ihren Wünschen erzählt hatte, verließ sie diese Welt. Am 15. Februar, dem Weltkinderkrebstag, forderte das K-Monster ein weiteres Leben. Ihre goldene Schleife ziert dennoch den Anzug des Wächterteddys. Zusammen mit vielen anderen spendet sie jenen Mut, die sich im Angesicht des Monsters machtlos fühlen. Golden ist ihr Licht, welches jenen, die in der Dunkelheit der Verzweiflung umherirren, den Weg zur Hoffnung weisen.
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Krebs, so ist der schreckliche Name des K-Monsters. Es ist ein gieriges Biest, zehrt einen auf. Es kann jeden treffen, oft jahrelang unbemerkt in seinem Opfer nisten. Darum sorgt vor! Achtet auf euch und eure Liebsten. Wartet nicht darauf, dass ein Wächterteddy im goldenen Anzug ihnen den Weg aus der Dunkelheit weist. Lasst sie sich nicht an ein Wesen aus Stoff klammern, verlasst euch nicht darauf, dass sie ihre Tränen an einem Plüschbären trocknen. Seid füreinander da, auf dass niemand sich in einen Traum flüchten muss, um nicht an seiner Angst zu ersticken.
Teddybären, so wundervoll sie auch sind, können echte Nähe nicht ersetzen.
Danke an Fizzy für das schöne Cover.