Schneller als Licht
Einst, als die Welt noch voller Magie war, Märchen mehr waren als überlieferte Träume, lebte ein Mädchen, welches man Farrya rief. Zusammen mit ihren Eltern und ihrem älteren Bruder lebte sie auf einem kleinen Hof nahe dem Wald. Ihre Familie war nicht mit Reichtum gesegnet und doch mussten sie nie Hunger leiden. Sie nannten kleine Felder ihr Eigen, welche in jedem Jahr reiche Ernte trugen. Zwei Kühe hatten sie für die Milch und Hühner für Eier und Fleisch. Tag für Tag kümmerte Farrya sich mit ihrer Mutter um die Tiere und Felder, während ihr Vater und ihr Bruder in den Wald zogen, um Bäume zu fällen und Holz zu sammeln. Jede Woche beluden sie einen Wagen mit Gemüse, Obst und anderen Gütern, um damit ins nahegelegene Dorf zu fahren und sie auf dem Markt zu verkaufen. Ihre Familie führte ein einfaches, aber gutes Leben. Farrya war ein glückliches Kind und dennoch hatte sie stets das Gefühl, etwas würde fehlen. Manch einer würde sie gierig nennen, weil das, was sie hatte, ihr nicht reichte. Doch ist es wirklich Gier, die einen zum Träumen verleitet und Wünsche in uns erweckt?
Es verlangte Farrya nicht nach weltlichen Gütern, weder wollte sie Edelsteine noch schöne Kleider. Das einfache Leinenkleid, welches ihre Mutter ihr genäht hatte, reichte ihr völlig aus. Nach einer Krone verlangte sie auch nicht, viel lieber war ihr die Schleife aus grünem Samt, in der Farbe ihrer Augen, welche ihr Bruder ihr geschenkt hatte, weil sie so gut zu ihren fuchsroten Locken passte. Farrya wünschte sich etwas völlig anderes, etwas, das es mit Geld nicht zu kaufen gab. Die Magie des Lichtes war es, von der sie träumte. Ob bei Tag, wenn sie mit ihrer Mutter in den wärmenden Strahlen der Sonne badete und die Ernte einholte oder bei Nacht, wenn sie ihre Gebete zum Mond und den Sternen sandte. Licht war so viel mehr als ein Mittel gegen die Dunkelheit, welche die Menschen fürchteten.
Farrya wollte alles darüber wissen, wollte begreifen, woher es kam, wohin es ging und was es auf seinem Weg berührte und veränderte.
»Vater, ist die Sonne aus Feuer gemacht?«, fragte sie eines Abends, als sie mit ihrem Vater in der Stube saß und ihm beim Schnitzen zusah. Zwischen ihnen, nur ein Tischchen mit einer Kerze darauf, deren Flamme die Schatten an den Wänden tanzen ließ.
»Ja, meine Kleine, darum können wir uns auch an ihr verbrennen, selbst wenn sie weit fort ist«, antwortete er sanft und geduldig wie immer, während seine kundigen Hände ein Stück Holz in einen Vogel verwandelten.
»Wie bei einer Kerze?«
»Gut erkannt. Die Kerze steht still, doch ihr Licht bewegt sich schneller, als unsere Augen ihm folgen könnten. Es vermag es, den ganzen Raum zu erfüllen, die Dunkelheit zu vertreiben und bringt die Schatten zum Tanzen. Kommen wir der Kerze jedoch zu nahe, verbrennen wir uns daran.«
»Aber es ist doch das Feuer, welches uns verbrennt.«
»Das Feuer verbrennt uns, doch das Licht lockt uns erst zur Flamme. Farrya, noch bist du ein Kind, hast den Kopf voller Träume, doch wenn du älter wirst, wirst du erkennen, dass es ohne Licht auch keine Schatten gibt. Alles auf der Welt hat seinen Preis, immer, selbst wenn wir es oft erst begreifen, wenn es zu spät ist.«
In dieser Nacht hatte er den Vogel noch fertig geschnitzt, seine dünnen Flügel mit feinen Federn geschmückt, um ihn Farrya mit einem Lederband um den Hals zu legen als Glücksbringer. Er hatte sie in die Arme geschlossen, sie zu Bett gebracht und ihr noch einen Kuss auf die Stirn gehaucht, ihr eine Gute Nacht gewünscht. Am nächsten Morgen war ihr Vater nicht mehr erwacht. Sein Lebenslicht war erloschen, schneller, als ihre Augen ihm hatten folgen können.
Während die Sonne langsam immer höher stieg, hob ihr Bruder ein Grab aus, ein Bett aus Erde, in welchem ihr Vater für immer ruhen durfte. Zu dritt trauerten sie um ihn, vergossen viele Tränen, welche die Erde tränkten und ihn dennoch nicht erwachen ließen.Er musste nicht lange alleine in seinem Bett aus Erde ruhen. Nur wenige Monate später trug es sich zu, dass die Mutter vom Markt heimkehrte, das Gesicht aschfahl und geschüttelt von Husten, der ihr den Schlaf raubte. Mit jedem Tag, der erwachte, schwanden ihre Kräfte, sodass sie bald kaum mehr war als ein Schatten ihrer selbst. Farrya wachte an ihrem Lager, kühlte ihr die Stirn und befeuchtete ihr die Lippen, tat alles, was in ihrer Macht stand, um die Leiden ihrer geliebten Mutter zu lindern. Nacht für Nacht entzündete sie Kerzen neben ihrem Nachtlager, hoffte, dass das Licht den Schatten des Todes fern hielte, welcher sich so gierig nach ihr streckte. Manchmal glaubte sie sogar, ihn am Fenster zu sehen, nur ein Huschen, doch nicht schneller als das Licht, sodass es ihn ein ums andere Mal vertrieb.
Zwei Wochen kämpfte sie an der Seite ihrer Mutter gegen den Husten und das Fieber, doch diese Schlacht konnten sie nicht gewinnen. So kam es, dass ihre Mutter, die älter und weiser war als Farrya, nach der Hand des Mädchens griff, ihr über die Finger strich und ihr ein schwaches Lächeln schenkte. Mit einer Stimme trocken wie Herbstlaut sprach sie: »Meine geliebte Tochter, mein Körper ist schwach, mein Lebenslicht kaum mehr noch als ein Glimmen. Lösche die Kerzen, lass zu, dass die Schatten mich zu sich holen. Dein Vater erwartet mich bereits.«
»Aber Mutter, wenn du in die Schatten gehst, wie soll das Licht deiner Kinder noch dein Herz erwärmen?«, fragte Farrya während Tränen ihre Augen füllten.
»Sei unbesorgt, selbst in meinem Bett aus Erde werde ich die Dunkelheit nicht fürchten. Licht ist es nicht, was mich dort erreichen muss, schneller als Licht muss die Macht sein, die selbst der Tod nicht aufzuhalten vermag.«
»Eine Macht schneller als das Licht?«
»Gedanken, mein Kind. Solange dein Bruder und du uns nicht vergesst, werden dein Vater und ich nicht in der Dunkelheit verloren gehen. Zu gerne würde ich auch deinen Bruder noch einmal sehen, doch ich fürchte, die Zeit ist nicht auf unserer Seite.«
Husten schüttelte sie, ihr Griff um Farryas Hand schloss sich fester. Farrya beugte sich über sie, presste ihre Stirn gegen die ihrer Mutter.
»Bitte geh nicht.«
»Fürchte dich nicht, Farrya, nicht vor den Schatten, nicht vor der Nacht. Ohne sie könnte auch das Licht nicht sein.« Wieder ein Husten, trocken und rasselnd. »Ich liebe dich, mein Licht.«
Diesen Worten folgte ein leises Seufzen; der letzte Atemzug ihrer geliebten Mutter brachte die Kerzenflammen zum Tanzen, ehe sie zusammen mit ihrem Lebenslicht erloschen.
Einmal mehr hieß es für Farrya und ihren Bruder Abschied nehmen. Sie trugen ihre Mutter zu Grabe, betteten sie an der Seite ihres geliebten Mannes.
»Was das Leben eint, soll der Tod nicht scheiden«, sprach Farryas Bruder, als er die Erde über dem Grab festklopfte.
Mit diesem Satz verabschiedete er seine Eltern und auch mit eben diesem Satz verabschiedete er sich von nun an immer von Farrya. Sei es, wenn er in den Wald zog, um Holz zu hauen oder zum Markt ging, um Gemüse und Obst zu verkaufen. Die Geschwister hatten schwer zu schaffen, da ihre Eltern fort waren, mussten sie den Hof selbst erhalten. Bevor die Sonne sich morgens am Himmel zeigte, begann für sie die Arbeit. Farrya versorgte die Tiere, kümmerte sich um die Felder und den Haushalt. Erst wenn der Mond am Himmel stand, kam ihr Bruder von der Waldarbeit heim, schwer beladen und oft so müde, dass er kaum einen Bissen aß. So vergingen Wochen und Monate, in denen Farrya ihren Bruder und auch das Licht vermisste. Als sie die Kammer ihrer Eltern räumte, flossen viele Tränen, doch niemand war da, um sie zu trocknen. Wie ein Schatten hing die Einsamkeit über ihr, verfolgte sie in jedem wachen Moment und selbst in ihren Träumen ließ er nicht von ihr ab. Sie versuchte, ihn zu vertreiben, entzündete Kerzen, sobald die Sonne sank, doch es half nichts. Manches Mal, wenn sie des Nachts erwachte, zum Fenster ihrer Kammer spähte, glaubte sie den Schatten dort stehen zu sehen. Nie näherte er sich ihr, verharrte starr und stumm, als würde er sie lediglich beobachten. Nur einen Herzschlag lange, ehe er wieder eins wurde mit der Nacht.
Viermal schon hatte Farrya den Teller ihres Bruders fort geräumt, ohne dass er davon gegessen hatte. Viermal hatte sie Stunden am Fenster gestanden und hinaus in die Nacht geschaut, mit der Hoffnung, das Licht seiner Laterne am Waldrand zu erspähen. Mit diesem Licht ließ er sie sonst immer wissen, dass er es war, der sich dem Hof näherte. Das Licht war schneller als er, nur ihre Gedanken waren schneller, wenn sie ihm entgegeneilten, während sie selbst am Fenster verharrte, um ihn zu begrüßen. Am fünften Tag sank ihr Mut. Was, wenn er zu ihren Eltern gegangen war? Wenn sie ihn nie wieder sehen würde und von nun an ganz alleine war?
Das Herz wurde ihr schwer in der Brust, als läge es in Eisen. Nachts konnte sie keine Ruhe finden und so tat sie etwas, das sie zuletzt als kleines Mädchen getan hatte. Sie schlich in die Kammer ihrer Eltern, doch ohne ihre Eltern war es nicht mehr als ein leeres Zimmer. Mit einem leisen Seufzen setzte Farrya sich auf das verwaiste Nachtlager, nur um sogleich erschrocken aufzuspringen. Unter dem Laken war etwas! Sie zog den groben Stoff zur Seite und entdeckte das Buch, das darunter verborgen lag. Warum fand sie es erst jetzt? Als sie die Kammer zuletzt betreten hatte, war es sicher noch nicht hier gewesen. Oder hatte die Trauer sie nur unachtsam gemacht? Ihr Vater hatte ihnen früher oft vorgelesen, auch dafür gesorgt, dass seine Kinder lesen lernten, sicher war es eines seiner Bücher. Farrya holte eine Kerze aus dem Nachttisch, steckte sie in den Kerzenhalter und entzündete sie mit einem Schwefelholz. Sie setzte sich, legte das Buch in ihren Schoß und schlug es auf. »Lichtläufer« stand auf der ersten Seite zu lesen. Dies musste wohl der Name des Märchens sein. Farrya blätterte zur nächsten Seite und begann zu lesen.
Farrya war eingeschlafen. Mit dem Buch in der Hand, im schwachen Schein einer beinahe heruntergebrannten Kerze, erwachte sie wieder. Noch ehe sie die Augen öffnete, wusste sie, dass sie nicht länger alleine in der Kammer war. Mit bangem Herzen zwang sie sich, die Augen zu öffnen, wie von selbst wanderte ihr Blick zum Fenster und da war er, der Schatten.
»Wie ich sehe, hast du mein Buch gefunden«, erklang eine sanfte Stimme. Und noch ehe sie etwas hätte antworten können, trat der Schatten neben das Bett.
»Wer bist du?«, brachte sie mühsam hervor.
»Entzünde eine deiner Kerzen und sieh selbst.«
Farrya zögerte doch, als der Schatten sich nicht regte, holte sie eine neue Kerze hervor, doch ihre Finger zitterten so sehr, dass es ihr nicht gelingen wollte, ein Schwefelholz anzureißen.
»Fürchte dich nicht, Farrya, nicht vor mir.«
Den Worten folgte ein leises Knistern und ein kleines blaues Flämmchen setzte sich auf den Docht der Kerze. Blaues Licht erfüllte den Raum, hüllte auch den Schatten ein, der nun vor Farrya zurücktrat. Magie! Farryas Neugier meldete sich, siegte über die Furcht.
»Bist du ein Magier?« Ihr Blick heftete sich an den Schatten.
»Ich bin alles und zugleich auch nichts«, begann dieser und verneigte sich sacht. »Doch, was bin ich für dich, Farrya?«, vollendet er seinen Satz.
»Du bist ein Schatten.«
»Nicht mehr?« Er richtete sich auf und breitete die Arme etwas zur Seite, schien selbst erst jetzt zu bemerken, dass er nur ein Schatten war. »Wie ärgerlich und ungeschickt von mir. Verzeih, ich zeige mich so selten, da habe ich vergessen, die Nacht abzulegen.« Er lachte leise, ein Laut so hell und klingend, dass er wahrlich nicht zu einem Schatten passte.
»Wärst du so gut, Farrya, lass das Flämmchen für mich tanzen?«, er deutet zu der Kerze.
Farrya zögerte kaum, einen Lidschlag lang, zu fasziniert war sie, von diesem seltsamen Wesen, als dass sie ihm etwas hätte abschlagen können. Behutsam tippte sie gegen die Kerze und brachte das blaue Feuer zum Zucken.
»So ist es gut«, lobte der Schatten und begann zugleich, sich mit dem Feuer zu wiegen wie im Tanz. »Das Licht ist schnell, doch deine Gedanken müssen schneller sein, Farrya, nur so kann ich die Nacht ablegen.«
Er war immer noch ein tanzender Schatten im Licht und doch war er auch mehr, er war ein...
»Schattentänzer?«, entfuhr es Farrya und mit dem Wort kam die Veränderung. Ein leises Rauschen wie von Wind, der durch die Blätter streicht, begleitet vom klaren Duft frisch gefallenen Schnees, erfüllte die Kammer. »Du bist ein Schattentänzer«, wiederholte Farrya erneut und die Nacht fiel von dem Wesen ab.
Eine letzte Drehung und sein Tanz endete, er verneigte sich erneut und als er dieses Mal den Blick hob, stockte Farrya der Atem. Wo zuvor nur Dunkelheit gewesen war, war nun ein Gesicht zu sehen. Menschlich und doch auch wieder nicht, ebenmäßig wie von einem Künstler erschaffen. Die Haut weiß wie Schnee, Augen silbrig wie der Mond, umgeben von einem dunklen Wimpernkranz.
»Schön, dass du mich endlich erkannt hast. Nun fürchtest du mich sicherlich nicht mehr, oder?«
So wie er jetzt vor ihr stand, hatte er wahrlich nichts Erschreckendes mehr an sich. Zierlich und dünn, der dunkle Umhang sah aus, als sitze er zu locker, die Stiefel, die darunter hervorblitzten, waren schief geknöpft. Dazu noch der Blick, den er ihr zuwarf, wie der eines Welpen, der um Futter bettelte.
»Nein, ich fürchte dich nicht.«
Ein Lächeln huschte über die Lippen des Schattentänzers. Farrya rutschte an die Bettkante, beugte sich etwas nach vor, um ihren Gast besser betrachten zu können, ehe sie fragte: »Warst du der Schatten, der nach Mutters Tod bei mir erschien?«
»Ja. Jede Nacht habe ich über dich gewacht, so wie auch du über deine Mutter wachtest. Aus all den Lichtern, die du für sie entzündet hast, formte sich meine Gestalt.«
Wie zum Beweis seiner Existenz drehte er sich einmal um die eigene Achse und knickste vor ihr.
»Wo warst du davor? Und warum bist du jetzt hier?«
»Ich bin ein Tänzer, reglos zu verharren liegt nicht in meiner Natur. Meine letzte große Vorstellung gab ich im nahen Dorf, dort traf ich auf deine Eltern. So gesehen bin ich hier, weil ich ihrer Einladung folgte. Und nun«, er klatschte in die Hände und kam tänzelnd auf sie zu, »sollten wir unsere Zeit nicht mit Worten vergeuden. Hast du nicht einen Traum, den du verfolgen willst?«, beendet er seinen Satz und sah sie abwartend an.
Farrya hatte nur einen Traum, sie wollte das Licht begreifen, seine Magie verstehen, doch wie sollte genau ein Schatten ihr dabei helfen?
»Ah, ich sehe, du fragst dich sicherlich, wie ein Schattentänzer dich zum Licht führen soll. Nun, die Antwort liegt so nahe, dass dein Blick wohl über sie hinweg geht. Lass mich dich erleuchten.« Seine Hand legte sich auf das Buch, welches neben Farrya lag. »Wer, wenn nicht ein Schattentänzer, sollte wissen, wo der Lichtläufer sich verbirgt.«
»Es gibt ihn wirklich?«
»Er ist eben so echt, wie ich es bin.« Er nahm das Buch an sich, schlug es auf und blätterte durch die Seiten, begann daraus vorzulesen: »Weit ab von Zeit und Raum, unberührt von Tod und Traum, am Ende der Zeit, am Beginn der Ewigkeit, wo die Realität sich wie Wellen bricht, erwartet er die Mutigen, badet sie in seinem Licht.« Er klappte das Buch wieder zu, schob es unter seinen Umhang.»Bist du denn mutig, Farrya?«
Sein Blick traf den ihren, das Silber seiner Augen schien zu erstrahlen, ihr direkt in die Seele zu blicken.
»Was wird aus meinem Bruder? Wenn ich nicht hier bin, dann …«
»Auch für deinen Bruder habe ich schon getanzt, ich kenne ihn gut und weiß, dass er, sobald nicht heimkehren wird. Doch triffst du auf den Lichtläufer, erhältst seinen Segen, so kannst du schneller als das Licht an die Seite deiner Liebsten eilen«, unterbrach er sie sanft und dennoch bestimmt. »Alles hat seinen Preis, immer. Es ist an dir, dich zu entscheiden. Warte hier, bis auch dein Licht vergeht und du zu einem Schatten wirst oder«, er verneigte sich, bot ihr die Linke zum Handschlag, »tanz mit den Schatten, um im Licht zu baden.«
Wie von selbst griff Farrya nach der dargebotenen Hand, zu verlockend war das Angebot. Mit einem Ruck zog der Schattentänzer sie zu sich und noch ehe sie wusste, wie ihr geschah, drehte er sich mit ihr im Kreis.
»Dann lass uns tanzen, schnell und immer schneller, bis die Welt um uns herum verwischt. Ich verspreche dir Farrya, ich werde über dich wachen, dafür sorgen, dass deine Schritte nicht fehlgehen, damit deine Träume sich erfüllen.«
Noch in derselben Nacht waren sie aufgebrochen, noch lange, bevor die Sonne sich am Himmel zeigte. Bis auf die Kleider am Leib, einen halben Laib Brot und einen Lederschlauch mit Wasser hatte Farrya nichts mit sich genommen. Der Schattentänzer hatte ihr sein Wort gegeben, dass ihr an seiner Seite an nichts fehlen würde. Alles, was er als Gegenleistung verlangte, war, dass sie jeden Schritt der Reise genoss, mit offenen Augen durch die Welt zog und Erfahrungen sammelte. Sie hatte ihn beim Verlassen des Hofes gefragt, ob alle Schattentänzer so seien wie er. Zur Antwort hatte er ihr nur ein unergründliches Lächeln geschenkt, sie an der Hand genommen und in den Wald geführt. Wie groß der Wald war, begriff Farrya erst, als sie selbst zwischen den gewaltigen Baumriesen umherwandelte. Ihr Vater und ihr Bruder hatten oft von ihrer Arbeit erzählt, doch sie hatte sie nie begleiten dürfen, da in den Schatten Tiere und auch Räuber lauerten. Anfangs war sie daher bei jedem Rascheln erschrocken zusammengezuckt, die ersten zwei Tage ihrer Wanderung hatte sie in ständiger Angst vor Überfällen verbracht. Am dritten Tag jedoch wurde sie schon mutiger. Zu Mittag, die Sonne stand direkt über dem Wald, begann sie Blumen am Wegesrand zu pflücken, knüpfte sich eine Krone daraus und setzte sie sich aufs Haar.
»Sieh nur wie schön«, freute sie sich und suchte mit den Augen in den Schatten nach ihrem Begleiter. Zwischen zwei morschen Stämmen wurde sie fündig, er hatte sich dort im Gras niedergelassen und auf sie gewartet, so wie er es immer tat, wenn sie ausruhte.
»Waren sie im Leben nicht schön genug?«, fragte er mit leiser Stimme. »Eben erst waren sie erblüht, ihre Zeit noch nicht gekommen und dennoch endete es, ehe es begann.«
Bei diesen Worten erhob er sich, reckte Farrya die Hand entgegen, die Linke wie damals, als er sie zum Tanz gefordert hatte. »Menschen, sie alle lieben das Leben und fürchten den Tod, so wie sie auch das Licht herbeisehnen, um die Dunkelheit zu vertreiben. Und doch sind oft sie es, die den Tod zu anderen bringen.«
Da begriff Farrya, was er meinte, woher die Trauer in seiner Stimme gekommen war. Plötzlich wog die Blumenkrone auf ihrem Kopf schwer wie ein Mühlstein, sie griff danach, zog sie sich vom Kopf und wollte sie von sich werfen.
»Halt! Du wolltest mutig sein, dann habe auch den Mut, zu deinen Fehlern zu stehen und aus ihnen zu lernen. Lass deine Gedanken das nächste Mal schneller als das Licht und schneller als dein Handeln sein.«
Sie seufzte, trat auf den Schatten zu und hielt ihm die Krone hin.
»Du solltest sie tragen, damit ich sie immer vor Augen habe.«
Sie schämte sich, sehr sogar, ihr unbedachtes Handeln hatte den Blumen den Tod beschert und ohne die Worte des Schattentänzers hätte sie nie auch nur einen Gedanken darauf verschwendet. Er strich sacht über die Blüten, nahm die Krone an sich, nur um sie ihr wieder aufs Haar zu setzen.
»Du trägst ihr Licht und ich ihre Schatten, damit wir beide nicht vergessen, wie kostbar das Leben ist«, sprach er versöhnlich und als sie den Blick hob, sah sie, dass er den Schattenzwilling ihrer Krone auf dem Haupt trug. Wie in der ersten Nacht griff er daraufhin ihre Hand und führte sie ohne ein weiteres Wort, tiefer in den Wald.
Farrya hatte es aufgegeben, die Tage zu zählen, die sie mit dem Schattentänzer durch den Wald zog. Er zeigte sich kaum, doch wann immer sie nach ihm rief, antwortete er ihr, tanzte für sie durch die Schatten. Nachts setzte er sich zu ihr, wachte über ihren Schlaf. Er hielt sein Versprechen, sorgte dafür, dass es ihr an nichts fehlte. Dennoch fühlte sie sich einsam. Sie vermisste ihre Familie.
»Sind wir bald da?«, fragte sie eines Morgens und bemerkte selbst, wie ungehalten ihre Stimme klang.
»Nur einen Gedanken weit fort«, erklang die Antwort zwischen den Stämmen; sie wollte eben etwas erwidern, als die Baumreihen sich lichteten und sie sich vor einer Höhle wiederfand.
»Ist er dort drinnen?«, sie deutet auf den Eingang, der wie das offene Maul einer Bestie im Stein klaffte.
»Ja, er erwartet dich bereits.« Der Schattentänzer löste sich aus den Schatten und erschien an ihrer Seite. »Bist du bereit, den Preis für die Erfüllung deines Traumes zu bezahlen?«, fragte er und richtete seinen Blick auf sie. Zur Antwort ging sie an ihm vorüber und betrat die Höhle.
Dunkelheit empfing sie, schwarz wie Tinte. Angst machte ihr das Herz schwer, wie in den Tagen zuvor, rief sie nach dem Schattentänzer, wartete vergebens auf Antwort. Hatte nun auch er sie verlassen? Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle und sie sank zu Boden, umschlang ihre Knie mit den Armen.
»Auf der Suche nach dem Licht habe ich selbst meinen Schatten verloren«, wimmerte sie, Tränen rollten über ihre Wangen. Sie tropften zu Boden und wo sie auf die Dunkelheit trafen, begannen Sterne zu funkeln. So lange hatte Farrya sie zurückgehalten.
»Jetzt, da die Sterne erwachen, du das Licht befreist, bist du bereit noch einmal mutig zu sein?«, flüsterte es neben ihr und sie spürte eine sanfte Berührung im Haar. »Lass deine Gedanken ziehen, schneller als das Licht. Reich mir die Hand für einen letzten Tanz.«
Er war wieder da, tauchte aus der Dunkelheit auf und verneigte sich vor ihr, wie einst in der Kammer ihrer Eltern. Die Linke reckte er ihr entgegen, mit der Rechten schlug er seinen Umhang beiseite. Da war es, das Licht, nach dem sie so lange gesucht hatte, verborgen unter seinem Schattenmantel.
Sie griff nach seiner Hand, ließ sich von ihm in die Höhe ziehen und warf sich ihm in die Arme. Sie tanzten den letzten Tanz, während um sie herum Sterne in der Dunkelheit erwachten. Schnell und immer schneller drehten sie sich, Farrya hatte die Augen geschossen, ließ sich einfach mitreißen, während die Lichter hinter ihren geschlossenen Lidern Bilder für sie malten. Ihre Gedanken gingen auf die Reise, flogen durch Raum und Zeit und kannten doch nur ein Ziel. Ihre Familie. Das Bildnis ihrer Liebsten, geschaffen aus Licht, von ihren Gedanken geformt. Ihre Mutter erwartete sie mit offenen Armen, an ihrer Seite standen ihr Vater und ihr Bruder. Farrya war nicht schneller als das Licht, doch sie strahlte vor Freude heller als die Sonne. Ihr letzter Augenblick, ehe auch sie zu einer Erinnerung wurde, war einer der glücklichsten ihres Lebens.
Mit einem leisen Laut schloss er das Buch, Stille erfüllte die Kammer. Behutsam strich er eine fuchsrote Strähne aus Farryas Stirn. Ihr Herz hatte seinen letzten Schlag getan, ihre Seele war in die Endlichkeit gezogen. Nie würde er sie vergessen, so wie er nie jemanden vergaß, mit dem er tanzte.
»Dank dir konnte sie mit einem Lächeln gehen.«
»Ich ließ sie nur träumen, du warst es, der ihr ein Lächeln schenkte«, antwortete eine leise Stimme vom Fuße des Bettes, der Schlaf war noch nicht wieder hinaus in die Nacht gezogen.
»Die Menschen fürchten den Tod«, erwiderte er matt. Der Fluch der Ewigkeit, welcher nur aus Abschieden zu bestehen schien.
»Weil sie nicht begreifen, dass nicht du es bist, der sie leiden lässt. Du bist es, der sie alle gleich macht, sie alle empfängt, wenn das Leben ihnen den Rücken kehrt. Ich weiß es und daher werde ich dich niemals fürchten«, sprach der Schlaf und entlockte dem Tod ein sachtes Lächeln.
Schneller als das Licht, so sind die Gedanken und auch die Träume, welche ihnen entspringen, aber auch der Tod, der wie ein Schatten um das Leben tanzt.