[Fortsetzung von Mai 2024]
»Du bist schon Oma?«, fragte Will verwundert.
»Oh ja, wie Du siehst schon ein paar Jahre. Meine Tochter brachte gerade ihr Studium zu Ende, da war der Kleine da.«
»Du hattest mir nie erzählt, dass Du Kinder hast«, sagte Will Phiggen.
»Naja, musste ich das denn? Als Wirtin erzählt man anderes als solch private Dinge, findest Du nicht? Außerdem habe ich keine Kinder, sondern nur ein Kind. Eine Tochter, die mich aber mit Stolz erfüllt. Sie machte was aus ihrem Leben. Nicht wie ich«, sagte Rosemarie dann resignierend.
»Sag das nicht«, begann Will in tröstlichem Tonfall, »Du hast diese Kneipe die Jahrzehnte hindurch gehalten.«
Will wusste selber, dass das nur ein schwacher Trost ist. Die Kneipe zu halten war weder eine große noch eine besonders lukrative Leistung, aber dennoch muss auch das erst geschafft werden, was nicht vielen gelang. Wirte kamen und gingen, das einzige, was blieb, waren die Kneipen. Und selbst die waren in jüngster Vergangenheit vom Aussterben bedroht. Man streamte eben zuhause den Fussball und ging nicht mehr in die Kneipe, wo man gemeinsam vor dem Fernseher bei einem Bier die Spiele betrachtete, bejubelte und fachsimpelte.
»Ach Will«, seufzte Rosemarie, »es genügte um meine Tochter großzuziehen, auch wenn ihr Vater das Geld gab.«
Sie sagte das mit einer gewissen Abscheu in der Stimme, was Will sehr bekannt vorkam. In vielen seiner Fälle ging es oft um Alimente, die nicht gezahlt oder die eher als Schweigegeld gezahlt wurden. Uneheliche oder ungewollte Kinder ließen sich mit Geld immerhin vom Hals halten. Das war für den Detektiven nichts Neues.
»Was ist mit dem Vater?«, fragte Will und nahm einen Schluck Bier.
»Der? Ach um ehrlich zu sein, war es nur eine Affäre. Eine mit Folgen«, sagte Rosemarie achselzuckend. »Aber schöne Folgen. Er kümmerte sich um den Unterhalt. Was meine Tochter brauchte, bekam sie und alle 2 Monate fuhr sie zu ihm in die Schweiz. Letztlich war auch er es, der das Studium finanzierte. Das hätte ich nicht geschafft. Dafür war ich Mutter und gute Freundin für sie, die sie ins Leben begleitet und nun voller Stolz sieht, wie sie auf eigenen Beinen steht und …«
Rosemarie schwieg plötzlich und Will erkannte, dass ihr was auf der Seele lastete, traute sich aber nicht nun zu fragen, was es denn wäre. Er hielt es für schlauer abzuwarten, ob sie weiterredete oder nicht. Wenn sie ihm was anvertrauen wollen würde, dann würde sie es jetzt tun. Wenn nicht, würde er nicht weiter nachhaken.
»...na… und dann doch die selben Fehler machen, wie ich«, sagte Rosemarie dann niedergeschlagen und schaute Will mit traurigen Augen an.
»Welche Fehler?«, wollte Will Phiggen wissen und betrachtete Rosemaries Hände, die auf Joshis Brust lagen und die deutliche Altersflecken aufwiesen.
»Joshi ist ebenso ein Sproß einer flotten Bekanntschaft. Scheint in der Familie zu liegen«, sagte Rosemarie dann lächelnd.
Sie beugte sich zu dem Kleinen hinunter und sagte in mütterlichem Ton: »Magst Du weitermalen? Na geh schon. Wenn was ist, ruf mich einfach, ja?«
Der kleine Mann nickte, winkte Will zum Abschied und verschwand in der Küche.
»Bist Du nicht zu hart zu Dir selber?«, fragte Will Rosemarie. »Ich meine, Du hast eine Tochter großgezogen, die studiert hat. Das können nicht viele behaupten.«
»Ja… da magst recht haben und trotzdem… es hätte vieles anders laufen können...«
»Hätte«, unterbrach Will sie, »lief es aber nicht. Red Dich also nicht klein. Freue Dich über das, was Du erreicht hast. Nebenbei… was hat Deine Tochter denn studiert?«
»Informatik! Etwas, womit wir Alten nichts anfangen können«, lachte Rosemarie und Will fiel in das Lachen ein.
Es durchschnitt die traurige Atmosphäre, die im Raum schwebte und lockerte diese auf.
»Sie referierte damals über irgendeine Verschlüsselung. Das war das Lieblingsthema ihres Professors. Ein arroganter Fatzke, der sie aber stets unterstützte und sie bis zum Abschluss brachte.«
Will horchte auf.
»Ein Experte in Verschlüsselung?«, fragte er.
»Weiß ich nicht. Sowas in der Art. Sie erzählte damals von Geheimbünden und Geheimdiensten, die ihre Nachrichten verschlüsselten und wie wichtig das heute in der medialen Welt sei. Aber wie damals auch, wird jeder Code früher oder später geknackt, weswegen wir immer neue und bessere Methoden bräuchten. Das war so ziemlich der Kern dieser Forschungen. Also so habe ich das zumindest verstanden.«
»Interessant«, murmelte Will, »Ob ich wohl mal mit dem Professor sprechen könnte?«
»Das weiß ich nicht, aber ich frage meine Tochter mal, ob sie noch seine Nummer hat und schicke sie Dir dann, einverstanden?«
»Klingt gut«, sagte Will, leerte sein Glas und legte einen 10-Euro-Schein auf den Tresen. »Stimmt so und danke, Rosi. Man sieht sich.«
Will drehte um und verließ die Kneipe. Als er hinter dem Steuer seines Autos Platz genommen hatte, schaute er in den Rückspiegel und sich selbst in die Augen. Wollte er je Kinder haben? Will Phiggen, Familienvater, der Samstags den Rasen des Einfamilienhauses mäht. Der mit seinen Kindern spielt und durch den Garten tobt. Will dachte darüber nach, jedoch fühlte es sich für ihn vollkommen falsch an. Eigentlich kannte er von kleinauf keine Familie. Sicher, er hatte eine Mutter, die früh starb und einen Vater, der von früh bis spät arbeitete um sich und natürlich auch Will nebst seinem Bruder durchzubringen. Was wohl sein Bruder macht? Seit Jahren hatten sie keinen Kontakt mehr und Will stellte sich vor, dass sein Bruder dieser Familienmensch sein könnte. Der tagein tagaus ins Büro schlurft, seine Frau busselt, die ihm Kuchen backt und das Wochenende im Baseballstadion verbringt. Warum brach der Kontakt ab? Vielleicht genau deshalb, weil Will und sein Bruder nichts verband. Sie waren zwei Seiten einer Medaille. Der eine ist der unscheinbare Duckmäuser, der andere der Verwegene. Der sich als Detektiv durchschlug und … ja, und irgendwie scheiterte. Er war hier in Deutschland mehr oder weniger gestrandet. Fern der Heimat, die er irgendwie vermisste und trotzdem froh war, weit von ihr weg zu sein. Ein Paradox. Will dachte darüber nach, ob er sich in einem Hamsterrad befand oder ob er zufrieden mit seiner Situation war. Die Erkenntnis, dass Rosemarie Mutter und nun Großmutter war, traf ihn mitten ins Herz. Es veränderte sein Weltbild und in der Tat fühlte er sich plötzlich alt. Schlimmer noch, er fühlte einen Anflug von Depression und hatte plötzlich Lust auf Whiskey und Jazz. Den langsamen, schwermütigen, bei dem man seine Sorgen mit dem flüssigen Gold aus alten Fässern ertränken kann. Will startete den Motor und fuhr direkt nach Hause. Genauso sollte dieser Tag enden.
Durch das chaotische Wohnbüro des Detektiven klang kratzend von einer abgenutzten Schallplatte ein schwermütiger Jazz. Will hatte es sich in seinem speckigen Ledersessel gemütlich gemacht, aß ein Leberwurstbrot und trank dazu einen Whiskey, den er typisch amerikanisch mit Eiswürfeln streckte. Seine Gedanken kreisten immer noch um Rosemarie, die sich ihm nun in einem völlig anderen Licht zeigte. Als fürsorgliche Oma und nicht als resolute Wirtin, die Zechprellern und Haudraufs die Tür weist oder ihnen gar einen Gerichtsvollzieher ins Haus schickt. Er konnte es noch immer nicht glauben. Er stellte den leeren Teller zur Seite, trank den letzten Schluck „flüssiges Sonnenlicht“, wie George Bernard Shaw den Whiskey einmal nannte, schloss die Augen und lauschte der Musik. Dass ihn dabei der Schlaf übermannte, bekam Will gar nicht mehr mit.